Aus dem Estnischen übersetzt von Cornelius Hasselblatt.

Erschienen auf Estnisch im Buch "Mein Zuhause war im ESSR." (Minu lapsepõlvekodu oli Eesti NSV-s, 2019. Zusammengestellt von Epp Annus und Brita Melts.)


Ich habe mich nie als ein Mensch aus der Sowjetzeit mit einem sowjetischen Zuhause verstanden. Erst in den letzten Jahren fing ich an mich dafür zu interessieren, was genau die Sowjetzeit mir mitgegeben hat. Ich habe immer gedacht, die Fragen, die mich beschäftigten, seien epochenübergreifend und allgemein menschlicher Art. Andererseits ist vollkommen klar, dass ich als jemand, die 1980 in Tallinn geboren ist, ein Kind der Sowjetzeit bin und als solches von jener Zeit und der in ihr herrschenden Mentalität auf die eine oder andere Art beeinflusst worden bin. Fragt sich bloß wie? Bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie das Zuhause meiner Kindheit ausgesehen hat, ist keineswegs sichergestellt, dass ich Klarheit erlange. Ganz sicher werde ich aber deutlicher sehen können, wo ich künftig nach den Spuren dieser Zeit in meinem Alltag und meinen Anschauungen suchen könnte und was sich aus der Welt meiner Kindheit in mir abgelagert hat.

 

Meine estnische Mutter und mein russischer Vater

Man kann die Frage stellen, ob meine Eltern andere Menschen gewesen wären, wenn sie nicht unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wären, meine Mutter 1946, mein Vater 1947. Ganz sicher wären sie das, aber was für welche, weiß ich nicht. Ich kann nur mutmaßen, dass meine Mutter, deren Vorfahren mütterlicherseits größtenteils schon urbanisierte Bildungsbürger waren, vornehmlich Lehrer, und deren Großeltern väterlicherseits Großbauern in Südestland waren, im bildungsbürgerlichen Milieu in einer vergleichsweise gut situierten Familie aufgewachsen wäre. Leben und Schicksal meines Vaters weichen so stark von seinem familiären Hintergrund ab, dass ich nur schwer einschätzen kann, wie sich sein Leben in anderen Umständen entwickelt hätte. Seine Eltern stammten beide aus einfachen Bauernfamilien aus Zentralrussland und waren voll und ganz durch die Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs geprägt. Der Vater meines Vaters verbrachte insgesamt acht Jahre im Mahlstrom des Krieges und nahm unter anderem an der Schlacht von Stalingrad teil, aber auch an den dem Zweiten Weltkrieg vorangegangenen Grenzgefechten zwischen sowjetischen und japanischen Truppen. Ebenso war seine Mutter als Funkerin aktiv im Krieg, und in meiner Erinnerung trägt sie Veteranenorden auf der Brust. Mein Vater verließ aber wegen seiner künstlerischen Interessen ziemlich früh sein Elternhaus und wurde entgegen aller Erwartungen nicht Ingenieur, sondern Künstler.

Meiner Meinung nach verbindet meine Eltern, dass sie entgegen der in sie gesetzten Erwartungen Künstler geworden sind, und ich glaube, dass sie im positiven wie im negativen Sinne von der Sowjetzeit geprägt worden sind, und ich auch.

Ich bin am 5. Dezember 1980 als erste Tochter der estnischen Keramikerin Kersti Karu und des russischen Monumentalmalers Valeriy Sakov geboren. Später wurde noch meine kleine Schwester Marja geboren, die die wichtigste Gefährtin in meinem Leben ist. Mir ist immer wichtig gewesen zu betonen, dass mein Vater kein Estlandrusse ist, sondern ein Russe aus Russland, der in Sewerodwinsk, in der Nähe von Archangelsk in Nordrussland zuhause ist. In Estland leben seine Familie und seine Frau. Meine Eltern hatten wenige Monate vor meiner Geburt geheiratet und sind bis heute verheiratet. Die Aufenthalte oder Besuche meines Vaters bei uns waren teils längerer, teils kürzerer Art, aber sein Zuhause ist dort im hohen Norden, und das war seine eigene Wahl, denn geboren und aufgewachsen ist er in Zentralrussland, in Dserschinsk in der Oblast Nischni-Nowgorod.

 

Für mich war es natürlich, bei meiner Mutter aufzuwachsen und einen Vater zu haben, der hin und wieder zu Besuch kam. Erst später begriff ich, dass verheiratet zu sein normalerweise etwas anderes bedeutet. Ebenso war für mich natürlich, dass meine Mutter und ich verschiedene Namen hatten, weil sie als 33jährige Künstlerin bei der Eheschließung beschlossen hatte, ihren estnischen Namen zu behalten. Gleichzeitig war mein Nachname, der sich von dem meiner Mutter unterschied, etwas, was mir zu verstehen gab, dass ich doch keine ganz echte Estin war so wie die anderen Menschen in meiner Umgebung.

 

Bei uns zuhause wurde Estnisch gesprochen, weil wir die meiste Zeit zu dritt waren, meine Schwester, meine Mutter und ich. Aber wenn Vater kam, sprachen wir mit ihm Russisch, was bis heute die übliche Sprache zwischen Vater und Mutter ist. Die Verwandten fragten immer wieder mal verständnislos, warum unser Vater eigentlich nie Estnisch gelernt habe. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass er, im Gegensatz zu mir, keine Ader für Sprachen hat. Aber ein Grund ist auch, dass sein Zuhause nicht richtig hier ist. Das ist weder gut noch schlecht, es ist einfach so.

 

Für mich war es normal gleichzeitig oder parallel zwei Sprachen zu reden. Und das hat sich sicherlich auch im weiteren ganz wesentlich auf mein Leben ausgewirkt.



Faehlmann-Straße Ecke Vask-Straße

Das Zuhause, wo ich aufgewachsen bin, war eine Gemeinschaftswohnung in einem dreigeschossigen weißen Steinhaus in Kadriorg an der Ecke Faehlmann-Straße / Vask-Straße, in der Nähe des Rundfunkgebäudes. Neben unserem Haus befand sich der Devisenladen Albatros. Ich kann mich nicht daran erinnern, davon geträumt zu haben, diesen Laden einmal zu betreten, oder die Menschen, die es taten, beobachtet zu haben. Es gab da halt ein niedriges Haus, in dem sich ein Laden befand, der nur für Auserwählte bestimmt war, Mutter meinte, es seien hauptsächlich Seeleute. Eher erinnere ich mich daran, wie man auf das Dach dieses Ladens kam, um die dorthin gefallenen Tennisbälle, die wir gegen unsere Hauswand warfen, wiederzubekommen.

Unser Haus muss einmal was ganz Besonderes gewesen sein, denn in seinem Keller, in dem wir selten etwas verloren hatten, befanden sich die Überreste eines Schwimmbeckens. Es war einfach ein irres Gefühl, in einem Haus zu wohnen, in dessen Keller mal ein Schwimmbecken war. Gleichzeitig rief es in mir Unverständnis hervor: Warum wurde das Schwimmbecken nicht repariert, damit man es benutzen konnte? Auch die Briefkästen unseres Hauses stammten aus einer vergangenen Zeit, sie waren aus Holz und mit Schnitzereien verziert.

Unsere Wohnung Nummer 8 befand sich im zweiten Obergeschoss und war die mittlere, was bedeutete, dass unsere Haustür doppelt so breit und deutlich höher war als die der zur Seite abgehenden Wohnungen. Die Wohnung selbst war zweigeteilt: Unsere Nachbarn, eine vierköpfige Familie mit zwei Töchtern, die etwas älter als wir waren, hatten die eine Hälfte, d.h. zwei Zimmer, und wir die andere mit ebenfalls zwei Zimmern, die Küche teilten wir uns. Aber wir hatten zusätzlich noch ein kleines fensterloses Kabuff und eine Speisekammer bzw. ein Dienstmädchenzimmer. Während ersteres vorwiegend von Vater für seine Kunstutensilien und Gemälde genutzt wurde, wurden in der Speisekammer Mutters Keramiksachen aufbewahrt, aber auch Küchengeschirr und Nahrungsmittel, wofür in der engen Gemeinschaftsküche kein Platz war.

Zwar herrscht allgemein die Meinung, dass Familien in Gemeinschaftswohnungen nicht gut miteinander auskamen, aber bei uns war es anders. Wir hatten ein gutes Verhältnis zu unseren Nachbarn. Mutter hat später sogar gebeichtet, dass es für sie, die häufig in den Abendstunden arbeitete, geradezu ein Segen war, Nachbarn zu haben, die nötigenfalls ein Auge auf uns Kinder werfen konnten. Als Kinder spielten wir oft bei den Nachbarsmädchen, und das taten wir gerne. Natürlich war uns eingeschärft worden, niemals ungefragt bei den Nachbarn einzutreten. Im Frühling und Herbst nahmen Onkel Mati und Tante Reet (ihr Familienname lautete Wahtramäe) uns mit ihren Kindern, sogar als sie schon größer waren, zu sich mit in ihr Sommerhaus nach Kiisa. Mati hatte auch ein Auto, was es in unserer Familie nicht gab. Während Tante Reet eine etwas strengere Art hatte, war Onkel Mati einer der angenehmsten und ruhigsten Männer meiner Kindheit. Als unsere Familien später in Lasnamäe getrennte Wohnungen bezogen, besuchten wir uns hin und wieder noch gegenseitig. Zu den Töchtern Hedi und Malle besteht bis heute ein zwar nicht sehr intimer, aber durchaus freundschaftlicher Kontakt.

Die Wohnung, in der wir wohnten, war die letzte Wohnstätte einer Großtante meiner Mutter gewesen. Anette Marie Vilbaste, frühere Familiennamen waren Rütmik und Mänd, war eine Schwester des Großvaters mütterlicherseits meiner Mutter, die zweimal verheiratet gewesen war: Ihr zweiter und letzter Gatte war der bekannte Botaniker Gustav Vilbaste, mit dem sie von 1939 bis 1967 verheiratet war, ihr erster Mann war der Industrielle und Fabrikant Johannes Rütmik, der 1937 starb. Aber eigene Kinder hatte Anette nicht, weswegen meine Mutter wie ein Kind für sie war. Anette war nur wenige Monate vor meiner Geburt und nur einen Monate nach der Eheschließung meiner Eltern gestorben. Obwohl ich Anette also nie kennengelernt habe, war sie in meiner Kindheit immer anwesend. Die gesamte Ausstattung der mich umgebenden Wohnung, angefangen bei den Möbeln bis hin zur bestickten Bettwäsche und dem Essbesteck war ein Erbe der Großtante, größtenteils aus der Zeit ihrer Ehe mit Johannes Rütmik, als das Paar in Nõmme wohnte. Erst später begriff ich, dass es nicht unbedingt normal war, jeden Tag mit silbernen Löffeln zu essen. In unserer Familie gab es aber silberne Löffel für den Alltagsgebrauch und Tafelsilber für festlichere Anlässe. Letzteres hatte Initialen eingraviert, meistens AR.

Meine Mutter war einige Jahre nach Gustav Vilbastes Tod zu Anette gezogen, 1971, als sie die Estnische Kunstakademie abschloss und beim Kunstkombinat ARS eine Stellung antrat. Aus der Wohnung Faehlmann-Straße 15 / Vask-Straße 14 mussten wir 1996 ausziehen, als sie den ursprünglichen Eigentümern zurückgegeben worden war, die sie an die Immobilienfirma Oberhaus verkauften. Unser zweites Zuhause wurde eine Dreizimmerwohnung im obersten Geschoss eines neunstöckigen Hauses in Lasnamäe, im Bezirk Mustakivi. Die alten Möbel von Tante Anette zogen gemeinsam mit uns um, aber sie standen dort in starkem Kontrast zu den Zimmern mit der niedrigen Decke.

 

Ich bin daran gewöhnt, in Gesellschaft alter Möbel mit Schnitzereien zu wohnen. Ich bin daran gewöhnt, dass Stühle ständig geleimt und die Bezüge erneuert werden müssen, und auch daran, dass Schranktüren nicht unbedingt immer ordentlich geschlossen bleiben oder Schubladen leicht aufgehen.

 

Vaters Einstellung zu unseren häuslichen Möbeln war von großer Ehrfurcht gekennzeichnet, bisweilen begegnete er ihnen aber auch mit Unwissenheit. Manchmal reparierte er alte Holzstühle, die Zapfen hatten, mit Nägeln oder strich Möbel an, denen das vielleicht nicht unbedingt guttat. Aber meistens bemühte er sich um eine bewusste und gefühlvolle Restaurierung bzw. Reparatur der Möbelstücke, besonders wenn es um das Ersetzen von Stoff- oder Lederbezügen ging. Meinen Holzschreibtisch und den Wandschrank aus Holz hat er allerdings weiß angestrichen. Immerhin hat das für ein wenig Helligkeit in unserer ansonsten ziemlich dunkel getönten Wohnung gesorgt.

Als Kontrast zu unseren Möbeln aus der Zwischenkriegszeit wurde unsere Umgebung mehr und mehr von Mutters Keramik und den Gemälden von Vater und Mutter angefüllt. Ebenso gehörte die Beschäftigung mit Kunst zum Alltag von meiner Schwester und mir. Ton hatten wir immer im Haus, und Mutter ließ uns daraus anfangs Kügelchen anfertigen, aus denen Halsketten gemacht wurden, später formten wir mit großem Eifer verschiedene Vögel und Tierchen (Katzen, Schlangen, Affen, Bären usw.). Dann kamen schon Tassen, Vasen und Schalen an die Reihe. Ich glaube, es gibt keine Kindheitsfreundin, der ich nicht einen Tonkrug oder ein Ölgemälde geschenkt habe. Als wir später unsere Sommer bei einer Freundin von Mutter in Pudisoo verbrachten, malten wir unter Anleitung von Vater leidenschaftlich die dortige Wacholderlandschaft und allerlei Insekten. Wir fingen eine Grille, einen Käfer oder eine Ameise ein, steckten sie in ein Glas mit einem durchlöcherten Deckel und machten uns daran – Vater, ich und meine Schwester –, die Kreatur in einem Gemälde zu verewigen. Von diesen häuslichen Malsitzungen sind ganze Serien von Insektenporträts von uns dreien bewahrt geblieben. Vaters Traum ist, eines Tages mit ihnen eine Ausstellung zu veranstalten.

 

Für mich war es normal in einer Wohnung zu leben, in der alle Wandflächen mit Gemälden bedeckt waren. So wie es auch ganz normal war, sich mit Töpfern und Ölmalerei zu beschäftigen.

 

Als Vater einmal mit einer größeren Art von Wandgemälde beschäftigt war, offenbar einem Fresko, hatte er einen Entwurf auf die Wand unseres Wohnzimmers gezeichnet. Dann ließ Mutter die Wand aber ziemlich schnell überstreichen, weil man sich in seiner Gesellschaft unmöglich frei und heimisch fühlen konnte. Später hing jahrelang Vaters Reproduktion von Pieter Bruegels des Älteren „Heuernte“ (De Hooi-oogst, 1565) in Originalformat über Mutters Bett im Wohnzimmer. Vater hatte zum Training seiner Kunstfertigkeit viele Repros von berühmten Gemälden angefertigt. Die „Heuernte“ war wirklich gut. In seinem dicken Goldrahmen war dieses niederländische Gemälde inmitten unserer mit Schnitzereien versehenen Holzmöbel auf gewisse Weise an seinem Platz und brachte gleichzeitig ein Quäntchen Sommer in jeden unserer Herbst-, Winter- oder Frühlingstage. Am Ende ermüdete uns das Gemälde aber doch, obwohl es uns auch noch in unsere Wohnung in Lasnamäe begleitete, wo es sich allerdings nie richtig einfügte, so dass meine Eltern es schließlich verkauften. Aber die „Heuernte“ wird immer ein Teil meiner Kindheit bleiben.

Zu meiner Kindheit gehört auch der große runde Esstisch mit einem Bein in unserem Wohnzimmer mitsamt seinen schlanken Stühlen. Aus irgendeinem Grunde liebte ich diesen Tisch. Wahrscheinlich weil es so schön war, an ihm zu zeichnen, und vielleicht auch, weil er in unserem Wohnzimmer direkt unter dem großen, dreiteiligen bogenförmigen Fenster neben der breiten Fensterbank stand. Ich kletterte gerne auf diese Fensterbank, um aus dem Fenster zu schauen, obwohl Mutter es nicht erlaubte.

Liebgewonnen habe ich ebenfalls die Möbel des (Schlaf)Zimmers von mir und meiner Schwester, die gleichzeitig auch die Schlafzimmermöbel von Tante Anette und Onkel Gustav gewesen waren. Zwei große Holzbetten, zwei dazugehörige niedrige Nachttische, ein dreiteiliger Spiegelschrank mit einem breiten Spiegelstuhl und eine Kommode für die Wäsche. Die Handgriffe dieser Schränke und die getupft-geblümten Schnitzereien der Bettpfosten und Schranktüren kann ich mir auch heute noch mit Leichtigkeit in Erinnerung rufen und sie in meinen Fingerspitzen fühlen.

Mit besonderer Ehrfurcht behandelte ich jedoch die Gewürzdosen in drei verschiedenen Größen auf dem obersten Regal in unserer Küche. An ihre estnische Aufschrift und die Gerüche der Gewürze kann ich mich bis heute erinnern, obwohl Mutter im Allgemeinen nicht zuließ, dass wir sie anrührten. Die Dosendeckel waren einmal kaputt gegangen, aber sorgfältig wieder zusammengeklebt worden.

Des weiteren gehörten große Aloen zu unserer Stadtwohnung. Sie waren wahrhaftig gewaltig. Wie auch die honigsüß blühende, große und wuchernde Wachsblume, die in meinen Erinnerungen das ganze Fenster samt Fensterbank unserer Speisekammer ausfüllte. Meine Mutter liebte Pflanzen und tut es bis heute. Häufig erzählte sie, dass sie in ihrer Schulzeit die botanische Sonderklasse besucht hatte und eine pflanzliche Ausbildung mit gründlicher Praxis genossen hatte. Mir ist dagegen erst in den letzten Jahren gelungen, dass Pflanzen nicht innerhalb der ersten paar Wochen, die sie bei mir verbracht haben, eingehen. Früher musste ich Geburtstagsgästen immer davon abraten, mir eine lebendige Pflanze zu schenken.

Gab es auch irgendetwas Russisches bei uns zuhause? Nicht sehr viel, aber etwas bestimmt. Wir hatten einen großen Samowar, den ich sehr mochte, von dem ich mich aber nicht erinnern kann, dass wir ihn häufig gebraucht hätten. Wir hatten auch viele nordrussische Holzschnitzereien: einen großen, rundlichen geschnitzten Holzvogel, einen Bären auf einem Holzsockel, der tanzte, wenn man an einer Schnur zog, ein geschnitztes Holzpferdchen auf Rädern, das angemalt war. Bestimmt auch ein oder zwei Sätze Matrjoschkas. Hauptsächlich gelangte das nordisch-russische Flair durch die Gemälde meines Vaters in unser Haus. Und äußerte sich außer in Vaters sicherlich auch, wenigstens teilweise, in meinem Charakter und meiner Wesensart.

 


In Viljandi und Loodi

Wie es für Esten typisch ist, teilen sich auch meine Kindheitserinnerungen in eine winterliche und eine sommerliche Umgebung auf. Denn für den Sommer wurden meine Schwester und ich regelmäßig aufs Land geschickt. Zwar nicht zur Großmutter, denn sie war bereits ein Stadtmensch und leider auch schon ziemlich früh (1987) verstorben. Mein Großvater war sogar schon vor meiner Geburt gestorben (1976). Echte eigene Großeltern hatte ich also nicht. Aber die Sommer verbrachten meine Schwester und ich in Viljandi und in der Nähe von Viljandi in Loodi bei Verwandten. Tatsächlich stammen alle Verwandten mütterlicherseits aus dem Kreis Viljandi, so dass ich manchmal scherzhaft behauptet habe, dass das einzig Estnische an mir in Wahrheit Südestnisch ist.

Weil Mutter den Großteil des Sommers arbeitete, teilte sie meine Schwester und mich zwischen den Verwandten auf einem Bauernhof in Loodi, d.h. der Familie von Tante Heli, und der in Viljandi wohnenden Großtante Linda auf. Heli Maria Kahu ist die Tochter von Martin Kahu, dem älteren Bruder meiner Urgroßmutter Anna. Bei den Kahus gab es sechs Brüder, und das siebte Kind war ihre kleine Schwester Anna. Von diesen Brüdern waren mindestens zwei oder drei Lehrer, und auch Anna wählte diesen Beruf. Martin war sogar Schuldirektor in Tallinn, bevor er unmittelbar vor Kriegsausbruch einen Hof in seiner heimatlichen Gegend in Loodi kaufte – für alle Fälle, falls die Dinge sich zum Schlechten wenden sollten. Und so führte Heli den Hof und leitete gleichzeitig diverse Chöre im Kreis Viljandi und unterrichtete in Viljandi. Mir brachte sie so manches bei, sowohl über Landwirtschaft und Viehhaltung als auch über das Leben allgemein.

Die Großtante in Viljandi, Linda Oja (ehemals Karu), war die Tochter von Mutters Großonkel väterlicherseits. Ihr Mann Elmar war gestorben und sie teilte ihr Haus in der Tehnika-Straße mit ihrer Schwägerin Ernestiine bzw. Tante Erna. Tante Linda hatte, wie Großtante Anette, keine eigenen Kinder, und auch für sie war meine Mutter ein bisschen wie eine eigene Tochter. Tante Linda war Deutschlehrerin gewesen, zum Beruf oder zur Arbeit von Tante Erna habe ich leider keinerlei Erinnerungen oder Angaben. In gewisser Hinsicht war Tante Linda wie eine Großmutter für uns. Sie starb, als ich schon eine junge Erwachsene war, und ich konnte bewusst von ihr Abschied nehmen. Auf die Beerdigung von Großmutter wurden meine Schwester und ich aus irgendwelchen Gründen nicht mitgenommen, obwohl ich damals schon sieben und meine Schwester fünf war.

Tante Linda wurde niemals böse, sie hielt sich Katzen und fütterte Tauben. In ihrem Hof konnte man auf riesige Taubenschwärme stoßen und die Treppe ihres Hauses war immer voller Taubendreck. Lindas Garten war wie ein wilder Dschungel, es gab dort so viele Pflanzen und Bäume, dass einem nie langweilig wurde. Gleichzeitig gab es dort entsetzlich viele Schnecken, die wir Kinder manchmal einsammeln mussten. In diesem Garten blühten im Frühjahr massenweise Tulpen in allen Farben, die in meiner Erinnerung so schön sind, wie ich sie später niemals mehr gesehen habe. Linda hatte auch die größten Erdbeeren der Welt, den am besten duftenden Jasmin, die leuchtendsten orangen Ringelblumen und die unvergesslichsten Meere von Vergissmeinnicht. Dieser Garten war ein Garten voller Wunder mit geheimnisvollen Pfaden und Komposthaufen.

Während wir in unserer Stadtwohnung über ein Wasserklosett verfügten, befand sich hier in Viljandi der Abtritt draußen im Hof, und nachts setzte man sich natürlich in der Küche auf den Eimer. So konnte ich manchmal jenen Menschen, die mich für ein Stadtfräulein hielten, stolz verkünden, dass ich durchaus wüsste und mich daran erinnerte, was ein Spüleimer, was Heumachen oder was ein Kuhfladen ist.

 

Proust hatte Recht. Erinnerungen setzen sich tatsächlich aus deutlichen Sinneswahrnehmungen zusammen. Ich hatte keine Ahnung davon, dass Gerüche, insbesondere Gerüche und Farben der Natur, in meinem Leben eine so wichtige Rolle spielen.

 

Wenn ich eine Woche bei Tante Linda und Tante Erna verbracht hatte – bei Erna durften wir übrigens Gesellschaftsspiele und Karten spielen, Linda mochte derlei Dinge nicht, sie löste leidenschaftlich gerne Kreuzworträtsel –, kam Mutter aus Tallinn und brachte mich aufs Land nach Loodi und meine Schwester in die Stadt, zu Tante Linda nach Viljandi. Bei der Verwendung des Wortes „Stadt“ musste immer dazu gesagt werden, ob es um Viljandi oder Tallinn ging, weil für die Verwandten in Loodi Viljandi die Stadt war, für uns aber Tallinn.

In Loodi wohnte und wohnt immer noch einer der wichtigsten und langjährigsten Freunde meiner Kindheit, der Sohn der Familie, Martin, der zwei Jahre älter als ich ist. Die Sommer waren wir unzertrennlich, im Winter schrieben wir einander Briefe, wir tauschten manchmal Münzen, manchmal Briefmarken, aber auch Eindrücke vom Leben und von der Schule.

In Loodi gab es für uns Kinder eigene Aufgaben. Wenn nicht gerade die Zeit des Heumachens war, mussten wir immer in irgendeinem Beet Unkraut jäten, die Kartoffelfurchen mit der Hacke bearbeiten, Beeren pflücken oder putzen, Kartoffeln entkeimen oder anderes Notwendiges tun. Aber wir hatten noch genügend Zeit, Unfug zu machen, einander zu ärgern, Beeren und Obst zu essen, zu lesen, Karten zu spielen, im Höllental von Loodi zu wandern, aber auch im vier Kilometer entfernten Sinialliku-See zu baden und Wasserspringen zu üben.

Auch das Bauernhaus in Loodi war eingerichtet mit alten Möbeln, die man bei der Auflösung der Güter gekauft oder bekommen hatte. Alles in diesem Haus war alt, und die Bücherregale waren gefüllt mit alten deutschsprachigen Büchern in Frakturschrift. Besonders in Erinnerung geblieben sind mit die Bände von Meyers Konversationslexikon aus dem 19. Jahrhundert, in denen wir von Zeit zu Zeit vorsichtig blätterten und die wir zu entziffern versuchten.

 

Meine Vorstellung von Zuhause

Mein Verständnis von einem Zuhause bildete sich inhaltlich aus dem Zusammenwirken jener drei Orte heraus: unserer Gemeinschaftswohnung in Tallinn, die zwei Adressen hatte (eine nach der Faehlmann-Straße, die andere nach der Vask-Straße), dem Kleinstadthaus in der Tehnika-Straße in Viljandi mit seinem großen Wundergarten, und dem Risti-Hof im Kreis Viljandi, der sich gegenüber dem Gutshaus von Loodi befand, in dem in meiner Kindheit noch Tiere und Geflügel gehalten wurden. In der Rückschau betrachtet waren alle diese Orte sowohl bezüglich der Gegenstände als der Einstellungen durchsetzt von der Mentalität der ersten estnischen Republik, es gab etwas altmodisch Vornehmes in ihnen. Tante Linda aß niemals ohne separaten Brotteller und ohne Untertassen.

In unserem Tallinner Zuhause und auf dem Hof in Loodi gab es in großem Maße auch die Kunst- und Musikmenschen eigene Unkonventionalität, die ich sicherlich zu lieben und schätzen lernte. Auch bei mir zuhause muss ein geordnetes Chaos herrschen oder eine bestimmte Atmosphäre, die schöpferische Tätigkeit begünstigt. Während das Haus meiner Eltern mit Gemälden überfrachtet war, gibt es bei mir zuhause sicherlich viel zu viele Bücher. Aber auch Kunst, eben gerade die meiner Eltern, drängt sich so stark in mein Haus, dass nicht alles an die Wände passt.

Ich vermag nicht zu sagen, ob sich die Heimstätten meiner Kindheit anders entwickelt hätten, wenn sie sich in einer anderen Zeit befunden hätten. Vielleicht spielten doch die Sowjetzeit und der in ihr herrschende Mangel eine wichtige Rolle bei der Konservierung dieser ganzen alten Atmosphäre, wovon die Möbel einen Teil ausmachten. Die Familienüberlieferung kennt nur die Geschichte von einem umständehalber verbrannten Klavier, dessen Füße heute eine neue künstlerische Verwendung in einer Tallinner Kunsthandlung erhalten haben.

Dass meine Eltern Künstler verschiedener Nationalität waren, ist sicherlich, zumindest teilweise, den Umständen der Zeit geschuldet, in der sie lebten. Beide sehnten sich nach etwas anderem und suchten etwas, das sie jeweils im anderen fanden oder zu finden hofften. Vielleicht auch in uns, ihren Kindern. Vielleicht sind in uns auf merkwürdige Weise zwei Dinge miteinander verbunden: das, was über die Generationen hinweg aus vergangenen Zeiten tradiert worden ist, und das, was unsere Eltern selbst aus ihrer Zeit nehmen konnten – denn als Künstler hatten sie im sowjetischen System trotz allem vergleichsweise gute Arbeitsbedingungen.

Sicherlich stimmt auch, dass die binationale Künstlerfamilie meiner Eltern nicht so recht (oder nur teilweise) in die jeweilige Welt passte, aus der sie stammten. Und dieser Umstand hat meine Eltern gewiss zusammengeschweißt. Ich glaube, dass beide sowohl sich selbst als auch den Geist ihrer Zeit in ihr schöpferisches Werk haben einfließen lassen. Aber das ist schon das Thema der nächsten Erzählung.