Im Rahmen des
Literaturfestivals Prima Vista besuchte Ralf Rothmann Estland (Lesung in Tartu
am 7.05.2019 und in Tallinn am 9.05.2019, organisiert durch das Goethe Institut in Tallinn).
Im Voraus erschein mein schriftliches
Gespräch mit Herrn Rothmann in der estnischen Kulturzeitung Sirp (3.05.2019). Das
vorliegende Interview vereint sowohl das schriftlich geführte Gespräch (Teil I) sowie am 9. Mai
in Tallinn in Vabamu mündlich Besprochene (Teil II).
Der Übersetzer Mati Sirkel und Ralf Rothmann. Foto: Kris Moor
Teil I
Ralf Rothmann, lassen Sie mich etwas provokativ anfangen.
Sie sind bekannt nicht nur durch die Sprach- und Gefühlskraft Ihrer Werke,
sondern auch dadurch, dass Sie einen der wichtigsten deutschen Buchpreise, den
Deutschen Buchpreis abgelehnt haben, weil Sie nicht Teil des Marketings bzw
nicht zu einem Literaturpudel gemacht werden wollten.
Sind Literaturpreise gefährlich, dass man sie ablehnen soll?
Ich habe natürlich nichts gegen Literaturpreise, auch nicht gegen den Deutschen Buchpreis. Preise oder genauer das Geld, das man als Preis bekommt, sind ja immer auch ein Stück Freiheit. Man kann sich wieder einmal Schuhe kaufen und muss sich nicht um die nächste Mietzahlung sorgen. Und die innere und die äußere Freiheit sind Grundvoraussetzungen für jeden, der schöpferisch arbeiten möchte. – Was ich freilich ablehne, ist das Procedere, das neuerdings mit den Preisverleihungen verbunden ist. Konkret bezogen auf den Deutschen Buchpreis heißt das, man muss in Konkurrenz zu anderen Autoren treten, und man muss sich telegen in ein Studio stellen und wie in einer Schlager-Casting-Show sein Buch in die Kamera halten. Und das widerstrebt nicht nur mir. Autoren sind scheue Wesen, ihre Arbeit findet im Stillen statt, und aus dieser Stille herauszutreten in den Medienlärm, beschädigt letztlich die poetische Potenz.
Sie haben in den Interviews immer wieder betont, dass das Schreiben sowie das Lesen für Sie eine Art Glücksmöglichkeit darstellen. Ebenso haben Sie gesagt, dass man aus einer inneren Notwendigkeit heraus schreiben soll, auf sein Herz, auf die innere Stimme hören sollen. Ihr schreiben entsteht ebenso aus Ihrer inneren Notwendigkeit, die vielleicht als eine Art Not sich aus der Stille herauszuschreiben, aber gleichzeitig die Stille zu beschreiben, der Stille Worte zurück zu geben. Der Roman „Im Frühling sterben“, der auch ins Estnische übersetzt ist, beschreibt die mögliche Geschichte Ihres Vaters, die Sie bzw auch der Erzähler von dem Vater nie gehört hat, weil er immer und bis zum Ende über den Krieg schwieg.
Ich habe im Verlauf der Jahre die Erfahrung gemacht, dass man sich die wirklich substanzvollen Texte nicht ausdenken kann. Die entwickeln sich aus einer inneren Notwendigkeit, ja, sie drängen sich oft auf, und wenn man dann demütig genug ist, diesem Impuls zu folgen, gelingt die Arbeit auch.
Für mich ist Literatur nicht unbedingt eine intellektuelle Disziplin, und es ist ja auch völlig uninteressant, was ich beim Schreiben denke oder empfinde. Viel wichtiger ist, zu welchem Denken und Empfinden mein Text den Lesenden inspiriert. Das Problem der Gestaltung liegt darin, dass ich nicht sage „der Kerl ist ein Schurke“, denn das wäre ja nur eine Meinungsäußerung. Vielmehr muss ich so arbeiten, dass der Leser von dem Geschilderten sagt: „Mein Gott, was für ein Schurke!“ Dann wird Lesen zum schöpferischen und also beglückenden Prozess.
In „Im Frühling sterben“ war es so, dass das beharrliche Schweigen meines Vaters über den Krieg eine Art Vakuum in mir hinterließ, das einen gewissen Sog entwickelte. Ich habe den damals schon verstorbenen Mann sehr geliebt und wollte wissen, was jene Jahre, in denen er unfreiwillig Soldat sein musste, mit ihm gemacht hatten, warum er so tief melancholisch geworden war, und also habe ich versucht, mich in die Zeit einzufühlen. So wie ich es aufschrieb, war es dann vermutlich nicht, aber so könnte es gewesen sei.
Jedenfalls habe ich später von vielen Lesern gehört: „Jetzt, nach der Lektüre Ihres Buches, kann ich das Schweigen meines Vaters über den Krieg verstehen.“ Denn es war eine ganze Generation, die bis ins Innerste verstummt und auch traumatisiert war angesichts ihrer Erinnerungen.
Dolmetscherin Juta Schnur, Ralf Rothmann, Aija Sakova. Foto: Kris Moor
Sie haben mal gesagt, dass die Essenz der Literatur ist nicht Bildung, sondern die Erfahrung ist und dass die Empathie und das offene Herz für das Schreiben ganz wichtig sind. Kann man sagen, dass die Bedeutung der Literatur in der heutigen Welt insbesondere darin liegt, neben dem Innehalten die Empathie gegenüber der Welt und dem anderen Menschen zu zeigen und zu lehren? Oder ist es zu simpel?
Nein, das ist ganz und gar nicht simpel, das ist die vornehmste Aufgabe der Literatur. Die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, verkümmert zusehends, die Bilder, die uns die Medien servieren, stumpfen uns ab. Sich nicht mehr vorstellen zu können, was der Mitmensch leidet, wenn man ihm dies oder jenes sagt oder antut, ist eine Folge davon.
Und es gibt keine andere Kunstform, die so sehr das Einfühlungsvermögen belebt und wachhält, wie die Literatur, denn sie bietet uns keine fertigen Bilder und keine bequemen Antworten: Sie erfordert unsere aktive Beteiligung, belebt und trainiert unser Vorstellungskraft und hilft uns, unsere Fragen an das Leben etwas genauer zu stellen.
Ihre Methode des Schreibens kann mit den Merkmalen „Beistehen und Beobachten“ bezeichnet werden. Doch gleichzeitig ist Ihr Schreiben sehr authentisch (ich meine hier nicht autobiographisch) und nimmt einen mit, macht empfindlicher gegenüber der Welt und dem Menschen. Dies kommt sicherlich durch Ihr außerordentliches Feingefühl gegenüber der Sprache, aber auch dadurch, dass Sie durch sich selber schreiben, sich vom Schreiben nicht aushalten, sich in den Stoff reinlassen und persönlich schreiben.
Es ist tatsächlich so, dass die Essenz meiner Arbeit die persönliche Erfahrung ist, und die vielen Berufe, die ich in der Vergangenheit hatte, waren sicher ein gute Universität; die reine Fiktion ist meine Sache nicht. Ausdenken kann man sich schließlich alles Mögliche, und am Ende stimmt die allzu große Klugheit eines Künstlers immer ein bisschen traurig.
Die Kraft eines Textes kommt aber nicht nur aus der Erfahrung des Autors, sondern wird auch mitgeprägt von seinem Sprachempfinden, klar. Und wenn ich oben sagte, dass Schreiben für mich nicht unbedingt eine intellektuelle Disziplin ist, so ließe sich jetzt hinzufügen: Es ist wesentlich eine erotische. Die Liebe zur Sprache, ihren Klängen und Anklängen, ihren Farben und Rhythmen, das ist nicht einfach nur Beiwerk. Die innere Wahrheit eines Satzes will klingen, und wenn man dafür kein Empfinden entwickelt und sich davon nicht leiten lässt, formuliert man womöglich an ihr vorbei und bleibt gefangen in seinem öden „Konzept“.
Ich würde gerne bei der Methode des Schreibens bleiben. Mich würde noch die Grenze zwischen dem Schreiben und dem Leben interessieren. Zum einen die Grenze zwischen dem Schreiben und dem Leben in dem Sinne der Grenze zwischen Arbeiten und Leben, ob man die Grenzen des Arbeitens im Leben eines Schriftstellers eigentlich so genau ziehen kann, da es ja fast nie aufhört. Zum anderen interessiert mich die Frage nach der Lebendigkeit des Lebens und der Literatur, der geschriebenen Sprache. Kann es sein, dass bestimmte Erfahrungen, Erkenntnisse durch das Schreiben, dadurch, dass sie im Wort entfaltet sind, lebendiger sind bzw werden.
Die Trennung zwischen Arbeit und Leben habe ich persönlich nie gemacht, und ich glaube, das wäre auch nicht gut. Man muss als Autor, als Künstler überhaupt, in jedem Augenblick mit offenem Herzen leben, muss sich so rein und bereit wie möglich halten für den Augenblick, in dem etwas Neues, ein Gedicht, eine Geschichte oder auch nur eine Zeile, ans Licht will. Ich habe große Ohren und höre sehr genau hin, wie die Menschen reden, streiten und schweigen, und wenn ich das zu Hause aufschreibe, wundere ich mich nicht selten, dass es im Schriftlichen viel substanzvoller zu sein scheint, als im Alltag.
Und was kann das anderes heißen, als dass es eine Wahrheit hinter der Wirklichkeit gibt, die wir nur leider allzu schnell vergessen. In der Literatur scheint sie auf – ähnlich übrigens wie in der Stille, die ja nur scheinbar ein akustisches Phänomen ist. Eigentlich ist sie ein metaphysisches, und wer ein Ohr für die Stille hinter den Zeilen bekommt, der liest doppelt, mindestens.
Das Publikum in Vabamu, Museum für Okkupationen und Freiheit. Foto: Kris Moor
Teil II
Als Literaturwissenschaftlerin,
die sich mit den Fragen des Erinnerns auseinandersetzt, bin oft gefragt worden,
ob man über alle Traumata reden soll, ob man vielleicht einige Themen ruhen lassen
soll.
Wie sehen Sie das, soll man die Stille mit dem Erzählen füllen?
Ich glaube schon, dass die Sprache eine heilsame Wirkung haben kann und deswegen ist es auch wichtig über das, was Sie ein Trauma nennen, zu reden. Mein Vater aber hatte dafür keine Sprache. Sein Schweigen war ein Ausdruck der sprachlichen Hilflosigkeit. Denn als ich ihn fragte, was im Krieg geschehen war, was er denn gemacht habe, ob er Menschen erschossen hat – Kinder fragen ja oft rücksichtslos – dann blickte er hilflos meine Mutter an und fragte sie: „Was soll ich denn jetzt sagen?“
Im Roman „Im Frühling sterben“ ist auch die Rede über das Zellengedächtnis, darüber, dass bestimmte traumatische Ereignisse oder Emotionen der Ereignisse über die Zellen an nachkommende Generationen übertragen werden. Sind Sie selber durch den Krieg, den ihr Vater mitmachen musste, betroffen?
Ich war immer davon überzeugt, dass mein Vater ein guter Mensch war, auch im Krieg. Weil er sein ganzes Leben lang ein guter, liebenswerter Mensch gewesen war und ich konnte mir nicht vorstellen, dass er etwas Schreckliches getan hätte.
Und doch fragte ich mich, warum träume ich so oft, dass ich erschossen werde. Einmal habe ich dann mit einem Arzt darüber geredet, nicht in therapeutischer Hinsicht, sondern weil der Arzt ein Bekannter von mir war. Er sagte, dass ich wahrscheinlich das Trauma meines Vaters geerbt habe.
Insofern wirkt der Krieg wohl auch in mir nach.
Und doch konnten Sie die Geschichte über Ihren Vater nicht früher erzählen, als Ihr Vater noch am Leben war.
Mir ging es wie vielen anderen, dass ich erst, als die Eltern schon tot waren, verstand, wie sehr ich sie liebte. Der Anlass für diesen Roman war der Wunsch meine Eltern liebend zu verstehen. Es gibt einen schönen Ausdruck von Peter Härtling, der auch ein Buch über seinen Vater geschrieben hatte, „Nachgetragene Liebe“.
So ist vielleicht auch mein Buch zu verstehen.
Ralf Rothmann hat aus seinem Roman "Im Frühling sterben" vorgelesen. Fotos: Kris Moor.
Kann man sagen, dass die Literatur bzw das Schreiben eine gewisse erlösende Kraft besitzt? Werden dadurch, dass die stattgefundenen oder auch imaginär stattgefundenen Ereignisse ins Erinnerung gerufen werden, die Traumas ruhen lassen?
Ich denke schon, dass das Schreiben und die Literatur für den Autor und wahrscheinlich auch für den Leser eine therapeutische Wirkung haben kann. Aber das ist nicht das Ziel eines Autors. Man setzt sich nicht hin und schreibt ein Buch, weil man eine Selbsttherapie beginnen will.
Ich glaube auch nicht, dass es wichtig ist, dass man diese Dinge ruhen lässt, wie Sie sagen. Umgekehrt – es ist wichtig, dass man sich damit auseinandersetzt. Nach dem Erscheinen von „Im Frühling sterben“ hat man mir oft gesagt „Schon wieder ein Buch über den II Weltkrieg. Muss das denn sein?“
Ich sage: Jaa, es muss sein. Denn jede Generation beleuchtet diese Epoche neu und in jeder Generation entstehen dazu neue Erkenntnisse. Und gerade in der jetzigen Zeit in Deutschland, in der Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus wieder deutlich zunehmen, ist es einfach wichtig darauf hinzuweisen, wie es angefangen und wohin es geführt hat.
Sie sprachen in Tartu über Gewalt und über die Faustregel in Ihrer Kindheit und darüber, dass in der Gegend, in der Sie aufgewachsen sind, im Ruhrgebiet, vieles durch Gewalt gelöst würde. Auch in der Familie gab es nicht wirklich eine Zärtlichkeit, eher kamen affektive Situationen vor – etwas wurde gebrochen, zerschlagen.
In den estnischen Medien ist neulich ein sehr gründlicher Bericht über häusliche Gewalt und deren unterschiedliche Formen in den Familien publiziert worden (Eero Epner „Sest nad saavad“ (Weil sie können), Eesti Ekspress 8.05.2019). Ich selber habe mich mit dem Thema auch als Forscher auseinandergesetzt und mich gefragt, ob man einen direkten Link zwischen den Nachfolgen des Krieges, in Estland auch des Sowjetischen Regimes und der teils unglaublich gewaltigen Beziehungen in den Familien gibt.
Wenn man in der Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsen ist wie meine Eltern, dann hat man ja nichts Anderes gekannt. Da bestand die Pädagogik bekanntlich nicht darin, dass man diskutierte, sondern es wurde draufgehauen, wenn man nicht gehorchte. Das haben die Eltern auch letztlich an ihre Kinder weitergegeben. Gerade in den proletarischen Milieus, aus der auch ich stamme, wurde nicht geredet. Da hat man gesagt, du machst es jetzt und wenn du es nicht macht, dann kriegst du eins hinter die Löffel.
Was da stattfand, würde heute als Kindermisshandlung betrachtet. Heute könnte sich keiner mehr vorstellen, dass man so die Kinder erzieht. Man hat bis aufs Blut geprügelt, aber hatte dabei keinerlei schlechtes Gewissen. Es gibt diesen geflügelten Satz: „Mir hat es ja auch nicht geschadet.“ Dieser Satz ist schon ein Indiz dafür, wie tief der Schaden eigentlich ist. Aber das konnten meine Eltern nicht verstehen.
Sie beschreiben im Roman stellen von unglaublicher Erniedrigung. Wasser von einer Pfütze trinken zu müssen, klingt noch sehr harmlos. Aber in Ihren Werken bleibt man trotz allem Mensch und menschlich. Das ist eine unglaubliche Leistung, die ich als erlösend empfinde.
Vielleicht liegt es daran, dass Literatur im Grunde genommen ja nicht ideologisch sein sollte. Literatur sieht keine Parteien, keine Ideologien, keine Menschengruppen, sondern die Literatur sieht den einzelnen Menschen.
Der Autor zeichnet sich dadurch aus, dass er weniger ein Virtuose der
Sprache, sondern ein Virtuose des Mitleidens, der Einfühlsamkeit ist. Darüber hinaus
ist es immer auch so, dass jedes Buch, selbst das dunkelste ja irgendwo eine feine Lichtader, eine zarte Utopie enthält. Nämlich, dass der Mensch besser sei
als das, was wir von ihm bis jetzt erfahren haben.
Die Sprache ist aber auch stark damit verbunden, wie Mitleid überhaupt entstehen kann. Ihre eigenen Texte verraten, dass Sie sowohl ein Virtuose der Sprache sowie des Mitleids sind.
Wissen Sie, es gibt grandiose Literatur, die unglaublich schlecht geschrieben ist. Nehmen Sie z.B. Dostojewski, seine Werke sind handwerklich betrachtet unglaublich schlecht und das hat schon Hemingway festgestellt. Trotzdem erzielen seine Texte eine unglaubliche Wirkung, er revolutionierte ganze Generationen. Wie kommt das? Das war ja keine Sache der Sprache, sondern etwas Anderes. Es geht letztendlich darum, wie erzeuge ich als Schriftsteller im Leser ein Gefühl. Und das kann man natürlich mit virtuosen Sätzen erzielen, aber das kann man auch mit wahrhaftigen Sätzen erreichen.
Verstehe ich richtig, dass die innere Wahrheit des Satzes sich aus dem Sprachgefühl und der Erfahrung zusammen setzt. In Tartu habe ich erfahren, dass Sie auch als Kirchendiener gearbeitet haben und das sie durch und durch katholisch aufgewachsen sind. Die Bibel und die biblischen Texte sind für sie eine poetische Quelle. Und ihre Erfahrungen wiederum reichen von unzähligen Arbeiten zu etlichen Reisen.
Es ist bestimmt so, dass die vielen Berufe, die ich gehabt habe, und die vielen Reisen, die ich gemacht habe, meine Universität, meine Schulung waren. Und diese war nicht die Schlechteste. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Literatur, die mich am meisten berührt, mir das Gefühl vermittelt, dass der Autor weiß, wovon er redet, dass er nicht einfach etwas erfunden hat, sondern es hautnah erlebt hat.
Wenn man über die innere Wahrheit des Satzes spricht, dann redet man auch über etwas Anderes, über einen handwerklichen Aspekt. Denn die Sprache hat ja eine rhythmische, klangliche, auch eine farbliche Logik, wenn man genau hinzuhören weiß. Dieser Logik versuche ich zu folgen. Ich fange manchmal einen Satz an und weiß nicht, wie er zu Ende geht. Dann horche ich in das Bestehende hinein und höre, wie er zu Ende gehen will. Das klingt vielleicht ein bisschen metaphysisch, aber so ist es in meinem Alltag.
Sie haben gesagt, dass ein Buch für sie mit einem im Kopf formulierten Satz anfängt. Wenn der erste Satz des Romans oder der Geschichte entstanden ist, erst dann können Sie anfangen.
Der erste Satz eines Buches ist für den Schriftsteller eine ganz magische Angelegenheit. Ich arbeite nie nach einem Plan, wenn ich ein Buch schreibe. Wenn ich nach dem Plan scheiben würde, da hätte ich nach dem elften Buch vielleicht keine Lust mehr.
Ich schriebe ins Blaue hinein, ich weiß nie, wie der Roman weitergeht. Was aber ganz wichtig ist, ist der erste Satz, er kommt von irgendwo her. Der kann auch total banal sein. Ein Buch von mir fängt mit einem Satz an: „Der Anzug war nicht schwarz, nicht wirklich.“ Dieser Satz ist für jeden normalen Menschen ganz banal, aber für mich war da die ganze Tonlage des Buches drin. Dem Zufolge habe ich dann weiter geschrieben.
Schreiben ist für Sie eine erotische Disziplin, nicht unbedingt eine Intellektuelle. Können Sie den Gedanken noch etwas ausführen?
Ich komme aus der Lyrik. Meine ersten Texte waren Gedichte und in Gedichten ist bekanntlich der Rhythmus, der Klang, die Klangfarbe ganz wichtig. Manchmal sogar wichtiger als das, was im Gedicht steht. Wie viele Gedichte, die uns sehr bewegt haben, haben wir eigentlich nur halb verstanden? Es liegt letztlich am Eros der Sprache.
Ebenso ist für mich, der mit The Beatles sozialisiert war, Rhythmus eine enorm wichtige Sache. Also, ein Text stimmt für mich erst dann, wenn ich den laut vorgelesen habe und gehört habe, dass keine Silbe zu viel ist.
Es scheint mir, dass in Estland gerade der Eros der Sprache etwas unterschätzt wird…
Für mich klingt die estnische Sprache sehr erotisch.
Vielen Dank!