Geschrieben als ein offener Brief an meine Freunde aus der Konstanz-Zeit (2002–2003).


Wie fängt man an, über die letzten 15 vergangenen Jahre zu erzählen? Fängt man mit der Aufzählung aller möglichen Erfolge und Errungenschaften oder umgekehrt, mit der Auflistung der Verfehlungen, mit dem (Immer-Noch-Nicht-) Gemachten an? Und wie erzählt man, wenn man gleichzeitig an eine größere Runde schreiben möchte und doch nichts vom Persönlichen verlieren möchte…

Es sind tatsächlich fünfzehn Jahre vergangen, seit wir uns zuletzt, alle zusammen, oder die meisten von uns, gemeinsam getroffen haben. Ich denke an Budapest im Februar 2004 und an die Konstanz-Bulgarien-Reise im Sommer 2004. Für mich zweifelsohne ein lebensveränderndes Jahr, ein Jahr ganz wichtiger Erkenntnisse und Entscheidungen. Ein um-die-Liebe-ringendes Jahr. Eine ganz große und vielleicht, so wie es sich später herausstellte, eine im Alltag unmögliche Liebe, die mir, nein, die uns einen Sohn schenkte. Den R., einen neuen D., ganz und gar seinem Vater ähnlich. Nun, wo er bereits 12 ist und im Herbst 13 wird, ringen wir uns mit ihm tagtäglich um die Liebe, um Verständnis, um Respekt. Aber nie ohne Ironie und schwarzem Humor, nie ohne die freundlich gemeinte und scharfsinnige Frechheit, die ich, so wie damals, so auch heute zu lieben und zu schätzen weiß.

Über meine letzten fünfzehn Jahre nachdenkend traf mich plötzlich die Erkenntnis, dass die meisten von Euch, also mit Ausnahme von Zh., und auch I., keine Kinder haben. Zumindest soviel mir bekannt ist. Ich dagegen bin Mutter von zwei Jungen: R. (2006) und V. (2009). V. ist neun und wird Ende dieses Jahres schon zehn. Und plötzlich frage ich mich: Wieso ich? Wieso bin ausgerechnet ich Mutter geworden und viele von Euch nicht? Ich stelle die Frage keineswegs als Vorwurf oder wenn, dann an mich. Denn ich habe tatsächlich manchmal darüber nachgedacht, was mich dazu getrieben hat, unbedingt Mutter zu werden. Und mit 26. Das war kein Zufall, der Sohn von mir und Zh. Keineswegs. Wir wollten ihn und haben auf ihn gewartet. Und ich bin so dankbar, dass es ihn gibt, und dass es auch V. gibt. Auch wenn es mir überhaupt nicht leichtfällt, das Elternsein, meine ich. So wie alles bei mir. Aber dafür mit Leidenschaft und Liebe. Manchmal denke ich, dass wir vielleicht tief in uns spürten, dass wir uns beeilen müssen, dass wir nicht den Alltag zu lange in uns rein lassen dürfen, sonst wäre es zu R. nicht mehr gekommen. Wir wären so wütend auf uns selber geworden wegen der Tatsache, dass wir unsere Liebe nicht halten, nicht pflegen konnten, dass wir an uns selber scheitern mussten.

Ich habe mich jahrelang dafür schuldig gefühlt, dass wir mit Zh. es nicht schafften zusammen zu leben, zusammen eine Familie zu sein, unseren Sohn gemeinsam zu erziehen. Ich fühlte mich verantwortlich und schuldig. Die Tatsache, dass Leute sagten, dass es immer zwei Menschen für eine Beziehung sowie für das Kaputtmachen einer Beziehung bräuchte, das war mir egal. Mein Gefühl war anders. Erst zehn Jahre danach, als bereits meine siebenjährige Ehe mit dem Vater von V. zugrunde gegangen war, konnte ich darüber reden. War ich überhaupt fähig diese Frage zu adressieren, irgendwie zu verstehen, was damals geschehen war. Und vielleicht auch mir selbst zu verzeihen.

Heute weiß und fühle ich, dass wir mit Zh., sowie mit Ml., mit seinem Bruder eine Familie sind. Ich zähle die D.-s zweifelsohne zu meiner Familie (oder mich irgendwie ein bisschen zu deren), denn wir sind ja verbunden. Durch R. Und das fühlt sich wunderschön an. Und wir verstehen uns auch gut. Ich glaube, ich spreche auch für die Männer. Unglaublich! Wir sind alle erwachsen worden. Sogar Ml. hat schon ein paar graue Haare.




Ich bin so dankbar, dass wir uns in den letzten Jahren immer wieder (so vielleicht einmal im Jahr) treffen, dass R. in den Sommerferien nach Bulgarien fliegt (heute schon alleine). Dass wir in Kontakt sind. Ml. war mit seiner Freundin in diesem Frühjahr in Tallinn und im August werden R. und V. zu Ml. und seiner Freundin nach Spanien fliegen. Auf Urlaub. Ist das nicht schön? Das alles baut auf unsere gemeinsame Zeit und Freundschaften in Konstanz auf ...

Im letzten Sommer war R. vier oder fünf Wochen in Bulgarien. Davor war ich mit ihm in Sofia und Shumen. In 2017 hatten wir ein größeres Treffen im April bei A. in Budapest, als Ml. von Deutschland angeflogen kam, I. mit ihrem Mann und ihrer Tochter (ebenso von Deutschland) und Zh. mit dem Auto aus Sofia und wir mit R. und V. von Tallinn. Nach ein paar Tagen bei A. sind wir dann mit Zh. und den Jungs über Rumänien nach Shumen zu Zh.-s Mutter gefahren. Insgesamt waren wir dann zwei Wochen unterwegs und es war eine sehr schöne Reise. Im Sommer 2017 war dann Kr. plötzlich für ein paar Tage mit einem Freund von ihm in Tallinn. Wir haben uns getroffen, waren essen und in Tallinn unterwegs. Es war schön, auch ihn nach 13 Jahren wieder zu treffen. Er lebt ja in den USA.

Aber auch in den Jahren davor hatten wir Möglichkeiten gesucht, wie R. nach Bulgarien kommen konnte. In den ersten Jahren nach seiner Geburt, war ich dann natürlich immer mit. Nach V.-s Geburt wurde es schwieriger und dann gab es Jahre, in denen R. doch noch zu klein war, um so lange weg von mir zu sein. Als er sechs wurde, kam dann Zh. mit seiner damaligen Freundin nach Tallinn. Oder einmal, da war R. dreieinhalb Jahre alt, fuhren wir mit meinem damaligen Mann und den Kindern nach Warschau und Zh. hat R. dort abgeholt. Dann haben wir auch L. getroffen.

Im August 2015 machten Zh. und Ml. eine Autoreise von Deutschland aus über Polen nach Estland. Insgesamt waren die beiden zwei Wochen unterwegs, hier vor Ort dann etwa eine Woche. Das war ebenso eine sehr schöne Zeit. Eine Zeit, in der auch V. sich voll in Zh. und Ml. verliebte. Ich erinnere mich, wie ich eines morgens V. nicht in seinem Bett fand und dann etwas besorgt war, wo er denn sei. Es stellte sich heraus, dass er in der Nacht irgendwie zu Zh. gewandert war und ganz friedlich bei ihm schlief.

Es scheint, als ob ich zu viel über Kinder reden würde – und ich habe oft die Angst, dass Leute, die Kinder haben, allzu viel über deren Kinder reden, und ich selber versuche das immer zu vermeiden – aber andererseits rede ich auch nicht nur über Kinder, sondern über Beziehungen. Über die Beziehungen mit Zh. und Ml. und mit den Kindern. Beziehungen sind für mich wichtig. Auch wenn ich immer wieder mal beschuldigt worden bin, dass ich Beziehungen nicht zu halten und zu schätzen wisse. Das mag so sein, oder zumindest so scheinen. Ich selber fühle das Umgekehrte: ich schätze gute Beziehungen. Und wenn die Beziehungen zwischen den Menschen fehl laufen, und die können komplett und völlig fehl laufen und sogar zur Gewalt führen, dann sollte man die Vernunft besitzen, sich von solchen Beziehungen zu distanzieren. Wenn das Leben und die Beziehungen, die ich gehabt habe, mich etwas gelehrt haben, ist es eben, dass man auch trotz aller Liebe zueinander sich allzu nah treten kann und einander unnötig viel Schmerzen bereiten kann.





So ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass der Schmerz und die Erinnerung die zwei zentralen Themen sind, mit denen ich mich als Literaturwissenschaftlerin beschäftigt habe und immer noch beschäftige. Meine Berufung und meine Leidenschaft sind das geschriebene Wort und die Erkundung des Menschen durch das Wort. Einfacher gefasst – die Literatur und wie die Literatur uns hilft, den Menschen besser zu verstehen. So habe ich vor fünf Jahren meine Doktorarbeit beendet, die den Fragen des Erinnerns und der Poetik des Erinnerns sowie den moralischen Aspekten der Erinnerungskultur gewidmet war. Das Buch wurde dann auch 2016 in Deutschland publiziert („Ausgraben und Erinnern“). Momentan arbeite ich auch an der Übersetzung des Buches ins Estnische. Vorletztes Jahr habe ich eine Artikelsammlung, also auch ein Buch, auf Estnisch publiziert, das mit „Schmerz, Gedächtnis, Literatur“ betitelt ist. Auch wenn es etwas schwermütig klingt, ist meine generelle Haltung, damals als auch jetzt, eher positiv und lebensbejahend und immer nach Lösungen suchend. Manchmal habe ich auch Menschen geantwortet, die mich gefragt haben, wieso ich mich mit solchen schweren Themen beschäftige (Traumata und Nachkriegszeit), dass es mir eben darum geht, Wege zu suchen und zu finden und aufzuzeigen, wie man durch den Schmerz kommt, wie man auch in den schwierigsten Situationen am Leben und bei Verstand bleibt, wie man den Mut findet, sich selbst auszusetzen. Und das ist gar nicht leicht.

Nach der Scheidung, die ganz und gar nicht ruhig verlief, fühlte ich mich irgendwie in einem tiefen schwarzen Loch oder im Meer des Schmerzes (manchmal der Scheiße). Zu tun war nichts. Außer den Schmerz und die ganze Scheiße zu akzeptieren. Erst dann ergab sich die Möglichkeit daraus raus zu schwimmen. Irgendwie einen festen Boden zu finden. Aber ganz langsam, mit Geduld (die mir nicht gegeben ist und die ich mühsam zu lernen versuche) und einem Schritt nach dem Anderen.

Mein Leben hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert. Ich glaube, ich habe eine Art Frieden (an den meisten Tagen) mit mir selber geschlossen. Ich beginne, mich selber zu akzeptieren und zu sehen. Zu verstehen, wer ich bin und was meine Berufung ist. Was meine Aufgabe im Leben ist, wenn man so will. Dann fragt man sich, wieso dauert es so lange, bis man zu irgendwelchen Erkenntnissen kommt. Wieso ist alles so mühsam…. Aber man lernt ja bis man nicht mehr lebt. Und was danach kommt, das wissen vielleicht andere besser. Ich versuche momentan damit im Einklang zu sein, was die hiesige Welt mir bietet und die Aufgaben zu lösen und zu überwinden, die das Leben mir zuweist.

Ich fühle, dass ich schreiben möchte und schreiben muss. Ich habe neben meiner wissenschaftlichen Tätigkeit angefangen viel freier und essayistischer zu schreiben und zu reden. Immer öfter werde ich eingeladen, auf Tagungen zu nicht literaturwissenschaftlichen Themen, um über Werte und über die Rolle der Sprache zu reden. Einige Vorträge oder Essays, auch auf Deutsch, habe ich auf meiner Internetseite in den Blog gestellt. Ich suche noch nach meiner Sprache, nach meinem Ton, nach der Art und Weise, wie ich erzählen kann und will. Auch diese Geschichte ist ein Versuch den richtigen Sprachton zu finden. Sie ist euch allen gewidmet.