Cornellius Hasselblatt hat das Interview aus dem Estnischen in Deutsche übertragen.
Viivi Luik: "Wenn ein Kind seine ersten estnischen Wörter ausspricht, ist es für den estnischen Sprachraum bestimmt. Dann klebt es mit der Zunge an der Axt und muss die Verantwortung dafür übernehmen, die das mit sich bringt. Diese Verantwortung ist angeboren."
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Aija Sakova: "Es ist klar, dass dein Werk, deine Bücher natürlich zu Estland gehören, aber sie gehören auch nach draußen, zur Weltliteratur. Denn ihre Gesprächspartner befinden sich größtenteils außerhalb Estlands."
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Teilhaben an der Welt oder Warum es notwendig ist, die Heimat hin und wieder zu verlassen
Im Frühjahr 2017 erschien die estnische Essaysammlung „Die Unvermeidlichkeit, den schönen Eindruck zu zerstören“ der Schriftstellerin Viivi Luik, die viele Geschichten enthält, die im Ausland verfasst sind. Im August 2018 kam in Deutschland bei Wallstein die Übersetzung von Viivi Luiks Roman „Schattenspiel“ (übersetzt von Cornelius Hasselblatt) heraus. In beiden Büchern werden Fragen angeschnitten, die die Identität betreffen oder sich im Zusammenhang mit Reisen und Auslandsaufenthalten schlichtweg ergeben. Das war der Auslöser für ein Gespräch zum Thema, warum es bisweilen notwendig ist, Estland zu verlassen und seine Heimat aus einem gewissen Abstand zu betrachten.
Du hast ziemlich viele Jahre außerhalb Estlands verbracht, zusammengerechnet beinahe 18 Jahre. In welchen Städten bist du gewesen?
Helsinki, Berlin, Rom, Riga, Stockholm und New York; ein wenig auch in der Schweiz, aber nicht so lange.
Welcher der Orte liegt dir heute noch am Herzen, oder anders gefragt: in welcher Stadt würdest du heute noch einmal wohnen wollen?
Vermutlich Rom und Berlin. Aber nicht weil ich sie so wahnsinnig liebgewonnen hätte, sondern weil sie interessant sind, denn sie sind Gegensätze. Sie drücken die Vielfalt der Welt aus, in gewisser Hinsicht vielleicht auch zwei Gegenpole in mir selbst. Man könnte lange darüber reden, wie verschieden Berlin und Rom sind, aber trotz allem bilden sie für mich eine Einheit.
„Schattenspiel“ – ein Roman oder eine Reisereportage, wie immer man es nennen will – ist eine Reise nach Rom. In dem Buch behauptest du, gewissermaßen die ganze Zeit auf dem Weg nach Rom gewesen zu sein. Die Idee sei in Sowjetestland entstanden. Dort in den fünfziger Jahren aufzuwachsen und gleichzeitig zu spüren, auf dem Weg nach Rom zu sein, ist ebenso seltsam wie selbstverständlich.
Ich glaube, als Kind, auch in den fünfziger Jahren, ist es einem völlig egal, in was für einem politischen System man lebt oder ob die Grenzen geschlossen sind. Für ein Kind hat das keine Bedeutung. Ein Kind ist frei. Es kann denken, dass es überall hingehen kann. So gesehen ist das gar nicht so sonderbar.
Das Kind sieht ein Bild vom Kolosseum, das auch in der estnischen Originalausgabe von „Schattenspiel“ (2010) abgebildet ist, und das wird ihm zum Ziel.
Genau. Ich habe irgendwo auch gesagt oder geschrieben, dass Kinder überall Kinder sind. Für ein Kind ist wichtig, dass es einen Menschen gibt, der es liebt. Auch in schwersten Zeiten, sogar im Konzentrationslager, ist es für ein Kind wichtig, diesen einen Menschen zu haben, der es liebt und der sich kümmert. Alles andere ist egal. Für ein Kind ist jede Realität hier und jetzt. So auch das stalinistische Estland, worum es hier geht. Einem Kind stehen anfangs alle Wege offen und alles ist möglich.
Was die estnische Sprache anbetrifft, da gibt es ein Gedicht von Paul-Eerik Rummo, aus dem du die folgenden Zeilen zitierst: „mit der Zunge an die Axt gefesselt, mit der Muttersprache an die eisige Axt“.
Wenn man Teil einer kleinen Kultur ist und weiß, dass die Sprache sehr klein ist, ist man auf besondere Weise mit ihr verbunden, so als würde man mit der Zunge an einer eisigen Axt haften bleiben, auf besonders schmerzhafte Weise. Kaltes Metall hat bekanntlich die Eigenschaft, dass man dran kleben bleibt, wenn man es mit der Zunge berührt, und das ist sehr schmerzhaft. Ein beliebtes Spielchen unter Schulkindern. Man sucht sich immer einen Jüngeren raus, der das noch nicht weiß, und sagt ihm, probier mal, leck mal. Daher stammt das Bild von der Axt und der Zunge.
Wenn ein Kind seine ersten estnischen Wörter ausspricht, ist es für den estnischen Sprachraum bestimmt. Dann klebt es mit der Zunge an der Axt und muss die Verantwortung dafür übernehmen, die das mit sich bringt. Diese Verantwortung ist angeboren.
Mir ist im Zusammenhang mit dem Estnischen ein gewisses Paradox in deinem Werk aufgefallen. Das Estnische ist deine Art und Weise dich auszudrücken, und doch ist deutlich, dass du aus Estland weg musstest, du musstest Estland verlassen und diese 18 Jahre fern von Estland verbringen. Einerseits ist das eine persönliche Sache, andererseits ist es auch universellerer Art. Es ist klar, dass dein Werk, deine Bücher natürlich zu Estland gehören, aber sie gehören auch nach draußen, zur Weltliteratur. Denn ihre Gesprächspartner befinden sich größtenteils außerhalb Estlands. Das ist ein sehr interessantes Paradox: Die Unvermeidlichkeit sich mit der Literatur außerhalb Estlands auseinanderzusetzen und auszutauschen, und das gleichzeitig auf Estnische zu tun.
Ausgangspunkt unseres Gesprächs war die Frage, warum man Estland hin und wieder verlassen muss. Also versuche ich darauf zu antworten und zu erklären, warum es für einen Menschen notwendig ist, über die Erfahrung zu verfügen, weggewesen zu sein und all das gesehen zu haben. Das bildet heute seine Umgebung, und ohne diese Erfahrung würde er unbewusster leben.
Was einem plötzlich klar wird, wenn man im Ausland gewohnt hat, ist die Gewissheit, dass auf jedem Fleck der Erde ein Mensch sein kann, ganz einerlei welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts, welcher Konfession, von dem eines Tages dein Leben abhängen kann. Die ganze Zeit hat dieser Mensch – sagen wir zum Beispiel eine Schwarze in New York – existiert und ihr eigenes Leben gelebt, ohne dass du von ihr wusstest oder sie von dir, und dann hängen eines Tages für dich lebenswichtige Dinge von ihr ab. Oder irgendein Arzt am anderen Ende der Welt. Solche gegenseitigen Abhängigkeiten sind insbesondere in Kriegszeiten deutlich geworden. All die Menschen, von denen wir eines Tages abhängig sein können, existieren schon jetzt.
Kann man das als Teilhabe der Menschen an der Welt bezeichnen?
Es ist tatsächlich auf besondere Weise die Entdeckung, dass man zur Welt dazugehört, aber auch die völlig neue Wiederentdeckung der eigenen Heimat. So ein Erkennen hilft dir, die Dinge anders zu sehen, und zu begreifen, dass deine Heimat viel besser ist, als du angenommen hast.
Außer der Entdeckung der Heimat auf eine neue Weise handelt es sich hier ja auch um eine Neuentdeckung seiner selbst. Um die Einsicht, von anderen abhängig zu sein. Das macht einen weniger hochmütig…
Es macht demütiger. Die Erkenntnis dessen, dass alle Menschen und Orte, mit denen du später zusammentreffen wirst, schon in deiner Kindheit existieren, abgesehen von denen, die noch nicht geboren sind, das verleiht der Welt Tiefe und verändert sie. Die Einsicht, dass alles gleichzeitig existiert, dass die ganze Welt hier und jetzt stattfindet.
Hat der Wunsch, Haus und Heimat für eine Weile zu verlassen, auch etwas Verwerfliches an sich?
Nein, meiner Meinung nach nicht. Es ist immer so gewesen, dass Leute, die ihre Arbeit machen und auf ihrem Gebiet etwas Besonderes leisten wollen, in Bewegung sind. Auch heute noch gibt es in Deutschland Zünfte. Wer Meister werden will, muss sich in seinen Lehr- und Wanderjahren wenigstens drei Jahre fern der Heimat aufhalten. Und erst danach darf er zurückkommen.
Es ist die unvermeidliche Zeit der Reifung und des Sammelns von Erfahrungen. Das heißt nicht, dass man das nur in seiner Jugend machen sollte. Man kann es auch später tun. Ebenso wenig heißt das, dass der Mensch den Kontakt zu seiner Heimat verliert. Im Gegenteil, es entsteht ein neues Verhältnis, das ein wenig kritischer sein mag, aber vielleicht auch deutlicher. Ein wenig so, wie man seine Familie besser zu schätzen lernt, wenn man ihr fern ist.
Das haben vermutlich alle verspürt, die auf Reisen und fern der Heimat waren. Denn sobald man auf Reisen ist, gehen die Gedanken andere Wege, und man hat einen anderen Blick auf die Dinge. Manchmal frage ich mich, ob es in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht auch so ist. Wenn du einem Menschen zu nahe bist, siehst du ihn und was zwischen euch geschieht, nicht mehr so deutlich. Man sieht das Gesamtbild nicht mehr. Wenn man einen Schritt Abstand nimmt, kann man wieder klarer sehen. Mit der Heimat ist es vielleicht so ähnlich.
Ja. Aber eine andere Sache ist es natürlich, wenn die Menschen in der Hoffnung auf das große Geld wegziehen. Oder aus Beleidigung oder Geringschätzung. Dann sehen sie sehr schnell, dass ein Leben in der Fremde viel schwieriger ist als zuhause. Ein Teil traut sich dann zurückzukommen, andere nicht. Die darben dann in der Fremde. Denn es erfordert Mut und Kraft, in einem fremden Land auf die Beine zu kommen. Es erfordert viel Arbeit. Es ist nicht so, dass du ins Ausland gehst und dir dort alles in den Schoß fällt. Es erfordert mehr Mühe als zuhause. Aus niederen Beweggründen woandershin zu gehen ist kein Wachsen. Ich meine etwas anderes, ein bewusstes Wachsen und eine Erweiterung seines Horizonts.