Heute, am 9. November 2018 ist es vielleicht nicht unpassend ein Gespräch vor 6 Jahren mit Wolf Biermann in Erinnerung zu rufen.

Das Interview war veranlasst durch die Tatsache, dass Wolf Biermann als Gast eines Literaturfestivals Estland besuchte und ist somit nur in der estnischen Übersetzung in der Kulturzeitung Sirp (4.05.2012) erschienen.
Das deutsche Original wird hiermit zum ersten Mal publiziert.

Foto: AFP/Scanpix


Mit der Hilfe der Musen habe ich mehr getan als ich konnte


7. Mai 2012 in Tartu Uus Teater
Konzert „Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um“

Herr Biermann, es ist eine außerordentliche Ehre Sie in Tartu zu Beginn des Prima Vista Literaturfestivals begrüßen zu dürfen. Lassen Sie mich mit einer unkonventionellen Frage beginnen. Für jemanden, der aus der Sowjetunion stammt und das erste Mal Sie Ihre Lieder singen hört, könnte Wladimir Wyssozki in den Sinn kommen, der ja auch seine eigene Lieder in Begleitung der Gitarre vorgetragen hatte.
(Wyssozki wurde natürlich nicht ausgebürgert und er konnte seine Platten im staatlichen Label herausgeben, aber man weiss auch, dass viele seiner Lieder nach dem Samisdat Prinzip verbreitet wurden.)
Ist diese Assoziation allzu falsch?

Ja, Wyssozki, seine Lieder kenne ich, ihn selbst habe ich nie getroffen, denn ich durfte in meiner Zeit als "staatlich anerkannter Staatsfeind der DDR" auch nicht in östliche Länder reisen. Sein vielleicht bestes Lied habe ich in mein Deutsch gebracht: "W Gospitalje" – Im Lazarett, ein geniales Gedicht: Jesus am Kreuz mit den beiden sehr verschiedenen Leidensgefährten - aber diese biblische Szene hat Wyssozki in die banale Horizontale geklappt: im Armeekrankenhaus. Ich kannte den Bulat Okudshave, traf ihn ein paar Mal, dichtete einige seiner Lieder ins Deutsche, vor allem sein berühmtes Lied: "A kak perwaja Ljubow" – Ach die erste Liebe. Natürlich vergleicht man sich: Ich bin so rabiat wie der eine und so melancholisch wie der andere.


Sie sind mit ihrer Person und mit der Tatsache, dass Sie aus der DDR ausgebürgert würden, zweifelsohne ein wichtiges Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte geworden. Ihr Leben und das, was mit Ihnen passiert ist, hat wiederum das Leben vieler anderer Menschen tief beeinflusst. Wie stehen Sie heute dazu, dass Sie die deutsche Geschichte mitbeeinflusst haben?

Ich bin eben ein Glückskind, ich konnte dem "Rad der Geschichte" in die Speichen greifen, ohne dabei zu zerbrechen und unter die Räder zu kommen. Ich hatte fast immer - und zur richtigen Zeit - die richtigen Freunde und die richtigen Feinde. Aber meine wichtigsten Helfer: Die Musen.


Im Jahre 1953 sind Sie aus Hamburg in die DDR übersiedelt, um den Sozialismus dort aufzubauen. Für die Bürokraten der DDR waren sie aber zu kommunistisch und zu kritisch. Sie duften nicht veröffentlichen und nicht auftreten. Stattdessen wurden Sie 1976 ausgebürgert und haben somit in gewisser ironischer Weise dem Verfall der DDR beigetragen.
Ihr Kölner Konzert zählt zu einen der wichtigsten deutsch-deutschen Ereignissen der Nachkriegszeit, da es sowohl in der BRD als auch in der DDR gesendet und geschaut wurde. Wie scheint es Ihnen heute, haben Sie Ihrerseits „genug“ getan, um den Verlauf der jeweils aktuellen geschichtlichen und politischen Geschehnisse zu beeinflussen? Gibt es etwas, was Sie heute anders tun würden?


Ich habe nicht genug getan, sondern mehr als ich konnte.
Ich komme ja durch Zufall der Geburt aus einer kommunistischen Arbeiterfamlie in Hamburg. Die andern DDR-Schriftsteller und DDR-Schruftstaller und DDR-Schraftstuller meiner Generation dachten auch kritisch und waren nicht dümmer als ich - aber die meisten kamen - kein Wunder! - aus Nazifamilien. Sie schämten sich für ihre Eltern und waren also im Streit mit den stalinistischen Apparatschiks der Partei sehr bescheiden. Ich aber sprach mit der brachialen Anmaßung des rechtmäßigen Erben. Meine Grundhaltung damals in der DDR hat meine Mutter Emma genial formuliert, als ihre falschen Genossen sie gegen mich in der Propagandaschlacht missbrauchen wollten: "Wolf ist ein Kommunist, und Ihr, Genossen, seid Antikommunisten! Mein Sohn Wolf ist ein Revolutionär, aber Ihr, Genossen, seid keine Genossen, sondern Konterrevolutionäre! Wolf ist ein junger Dichter - und Ihr seid alte Schweine." - Das klingt doch schon wie ein schönes Lied - oder etwa nicht?


Foto (links): Litraturfestival Prima Vista in Tartu, 7.05.2012. Kristjan Teedemaa/Postimees
Foto (rechts): Literaturfestival Lauter Lyrik in Hamburg, 16.11.2008. Marco Maas/Wikipedia


Sie sind 1953 freiwillig in die DDR gegangen, weil Sie an den Kommunismus glaubten. Für jemanden aus Estland, aus einem Land, das etwa 50 Jahre unter dem sowjetischen Terrorregime leben musste, ist dieser Entschluss und dieser Glaube schwer nachzuvollziehen. Im Lichte der deutschen Geschichte sieht die Situation natürlich anders aus. Es scheint sich aber immer ein gleiches Muster bei den Regimewechseln zu wiederholen: eine kritiklose und fast fanatische Übernahme der neuen Spielregeln und eine kompromisslose Missachtung all dessen, das aus dem alten System stammt. Oder?

Den Idioten-Satz: Es war nicht alles schlecht in der DDR … kenne ich schon aus der Epoche vorher: Es war nicht alles schlecht unter Hitler … da könnte man auch mit der Wahrheit lügen: es war nicht alles schlecht im KZ Auschwitz oder im GULag. Wenn ein Häftling auf der 6-Mann-Pritsche dir ein Stückchen Brot abgibt ist das natürlich besser, als wenn ein Taschendieb Dir im Salon die goldene Uhr klaut.


Sie sind in Hamburg in eine jüdische Kommunistenfamilie geboren worden. Sie haben es mal als eine doppelte Minderheitssituation bezeichnet, die ein wichtiger Beweggrund für ihr Schaffen war, nicht nur politischen, sondern auch künstlerischen.

Ich hatte im Streit mit den totalitären Stalinisten natürlich immer auch Angst. Die war ja auch begründet. Aber nur selten hatte - also umgekehrt - die Angst mich. Das passierte mir einmal, in der Nacht zum 21. August 1968. Da rief mich ein Freund an und sagte: Steh auf! Mach das Radio an!" - dann legte er schnell auf, weil er Angst hatte, daß die Stasi ihn identifiziert. Dann hörte ich im Radio die offizielle Erklärung über den Einmarsch gegen den Prager Frühling. Da hatte ich, nein da hatte mich die Angst.


Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, haben Sie mal gesagt, dass es ein Glück war, dass ihre Texte in der DDR verboten wurden und dass sie ausgebürgert wurden, weil es sich auf diese Art und Weise leichter vom Kommunismus und Sozialismus distanzieren lieβ, im Unterschied zu den staatlich akzeptierten Autoren der DDR, die sich noch 1989 mit der Auflösung der DDR möglicherweise schwertaten. Wie empfanden Sie die Wiedervereinigung Deutschlands? War es ein Jubel? Sind die zwei Deutschlande heute einig?

So viele Fragen! Mit meinem Freund Günter Grass bin ich seit 1989 zerfreundet, weil er das Wort Wiedervereinigung mit "i" schreibt. Ich schreibe es mit "ie". Ich bin froh, daß die Deutschen endlich mal neue ernste Probleme haben und nicht mehr die stinkenden alten.
Ich habe grade gestern in Weimar ein Konzert geliefert … und sitze nun im Hotel "Russischer Hof" - - und sehe das wunderbar auferstandene Stadt von Goethe und Schiller und Herder . Als die DDR zusammengebrochen war und der Wahlkampf losging, lieferte der damalige CDU-Bundeskanzler Kohl eine politische Propagandalüge - er versprach den DDR-Bürgern "blühende Landschaften" - Nun kann man sehen, daß diese Lüge Wahrheit geworden ist. Es dauerte nur ein paar Jahre und kostete mehr als nur, wie er damals formulierte - das Geld aus der Portokasse.


Damals, am 13. November 1976 hatten Sie Ihren Konzert in Köln mit dem Lied „So oder so, die Erde wird rot“ angefangen und den Satz von Marx zitiert, an den Sie beim Schreiben dieses Liedes gedacht haben: „Die Menschheit entweder ein Weg zum Sozialismus, zur kommunistischen Gesellschaft finden wird oder sie wird in die Barbarei versinken“.Können wir heute noch mit diesem Satz etwas anfangen?
Oder war der Kommunismus eine utopische Hoffnung, die zwangsläufig in die Irre führen sollte? (So etwas haben Sie auch schon mal gesagt, wenn ich mich nicht irre)

Antwort: siehe oben!


Sie haben auch viel von der Freiheit gesungen. Gibt es so etwas wie Freiheit in der kapitalistischen Welt? (Oder: Wohin sind wir heute unterwegs?)

Das, was Heine im Gedicht "Enfant Perdu" den Freiheitskrieg der Menschheit nennt, - hört niemals auf. Meine neuen Lieder und Gedichte handeln genau davon.


Ihre Lieder zeichnen sich durch eine beeindruckende Sprachkraft, durch Ironie und eine kritische, auch selbstkritische Haltung aus, also sie sind provokativ. Haben Sie heute noch Lust und Kraft zu provozieren?

Ich wollte nie provozieren - grade deshalb gelang es mir ja auch!