Heute vor einem Jahr ist die estnische Autorin Ene Mihkelson (21.10.1944-–20.09.2017) gestorben.
In Erinnerung an die Autorin wird eine Auswahl von ihren Gedichten in deutscher Übersetzung abgedruckt.
Foto (2014): Alar Madisson, Estnisches Literaturmuseum

"Sie hat sich mit der Zeit eingelassen und daraus
wurde ein Sohn geboren Der Sohn kennt unsre ganze
Geschichte aber er liest die Buchstaben von hinten
nach vorn Auch tut er mit den Augen schielen Das
eine sieht was nicht sein konnte und das
andere was davon bleibt Die Wörter kommen ihm wie
aus dem Ärmel und einen festen Korb hat er vorm Maul
Er treibt sich dauernd auf den Jahrmärkten herum
Seine Arme sind lang wie bei einem Toten"

Übersetzt von Irja Grönholm
("Estonia 2006: Jahrbuch der estnischen Literatur", 2006, S. 164)

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"An dem Tag als es Kugeln regnete
häufelte ich mit dem Handpflug Kartoffeln
Die Kugeln fielen durch meinen Leib peng
und peng geradewegs in die Furche und der Pflug deckte
auch sie mit Erde zu
Wenn es jetzt Herbst wird hat man hoffent-
lich zu essen und zu sterben
Dann sieht man was der Pflug aushält"

Übersetzt von Irja Grönholm
("Estonia 2006: Jahrbuch der estnischen Literatur", 2006, S. 163)

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"Leben in Estland macht so krank, Bruder
gegen Bruder; Befehle, ausgeführt, fluchend
Liebe hat es mit dem Herzen schwer, noch nach Jahren
Leben in Estland macht traurig, entzweigeschlagenes
Recht, abgewogene Leiden
Mit den Augen der Eule blickt Wahrheit
Tagsüber ja blind"

Übersetzt von Gregor Laschen
("Die Freiheit der Kartoffelkeime", 1999, S. 117)

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"Durch den Lebenstraum, das ausdauernde Leben des Schlafs
geht verborgen der Riß. So
geheime Täuschung wagt das Gedächtnis auch
und verliert"

Übersetzt von Gregor Laschen
("Die Freiheit der Kartoffelkeime", 1999, S. 109)