Emine Sevgi Özdamar und Viivi Luik, Literaturhaus Berlin 8. Oktober 2018. Foto: Elvira Akzigitova

„Schattenspiel“ (Varjuteater, 2010) ist Viivi Luik‘s dritter Roman. Auch ihre früheren Romane „Der siebente Friedensfrühling“ (Seitsmes rahukevad, 1985; Dt. 1991) und „Die Schönheit der Geschichte“ (Ajaloo ilu, 1991; Dt. 1995) sind ebenfalls auf Deutsch erschienen. Der Roman „Schattenspiel“ ist bereits ins Finnische, Lettische und Ungarische übersetzt worden.

In den Jahren 1996–1997 lebte die Autorin Viivi Luik als DAAD Stipendiatin ein Jahr lang in Berlin. Auch viele ihrer Gedichte sind ins Deutsche übersetzt worden. In Estland ist Viivi Luik bekannt auch als präzise Essayistin und Beobachterin der gesellschaftlichen Prozesse.


Aija Sakova: In Ihrem Roman „Schattenspiel“ sagt Ende des Kapitels „Die Hure Babylon“ ein deutscher Kritiker der Erzählerin folgendes: „Schreiben Sie auf jeden Fall darüber, wofür Sie sich am meisten schämen. Sagen Sie nicht, dass Sie sich keiner Sache schämen. Lügen Sie nicht.“
Könnte diese Aufforderung darüber zu schreiben, wofür man sich am meisten schämt – also über das, was im Schatten bleibt, was nicht gezeigt wird – als eine Art allgemeine Funktion der Literatur verstanden werden? Ist das Zeigen des Unsichtbaren, des Verborgenen für Sie als Autorin vielleicht eine der wichtigsten Funktionen der Literatur überhaupt?

Viivi Luik: Ein schreibender Mensch, ein Autor, ein Schriftsteller soll immer auch ein Vermittler sein, ein Übersetzer sein, der das ausdrücken wird, was die anderen Menschen unbewusst denken und fühlen, aber das solange unsagbar bleibt, bis niemand darüber schreibt. Man kann sagen, dass die wichtigste Funktion der Literatur eine Art von Brückenbau ist.
Mir scheint, dass die Literatur Brücken zwischen sonst fremden Menschen erbaut und dadurch die Entfremdung abbaut. Der Schriftsteller ist meiner Meinung nach derjenige, der durch sich selbst und durch seine Ehrlichkeit (zu sich selber und der Welt gegenüber) uns zeigen kann, was es eigentlich bedeutet, ein Mensch in der heutigen Welt zu sein.

Natürlich gehören dazu auch Schatten und Schamgefühle und alles, was sonst verborgen bleibt. „Lügen sie nicht!“ klingt wie eine Zusammenfassung des Wesens der Literatur.

 

„Schattenspiel“ beginnt mit der Behauptung, dass das ganze Leben der Erzählerin eine Reise nach Rom gewesen sei. Die Reise findet ihren Anfang im Jahre 1949 im Sowjet-Estland, als das 3-jährige Kind in einem verlassen Haus – die Hausbewohner sind in der Angst vor der Roten Armee in den Wald geflohen – ein Buch mit dem Bild von Kolosseum sieht.
Der Roman, manchmal auch als Reisebericht bezeichnet, ist stark autobiographisch gefärbt. Man kann und sollte zwar nicht alle Szenen für wahr halten im Sinne, dass es auch im Leben von der Autorin Viivi Luik genau so war, aber es entsteht trotzdem das Gefühl, dass Sie mit Hilfe der Worte die Welt erkunden bzw neu erkunden und sogar entdecken. Durch die Beschreibung der Ereignisse, durch das sog. Schreiben des Lebens entsteht ein neuer Sinn, es entsteht eine neue Welt, die auf einmal tatsächlich existiert. So ist es auch möglich, in Estland aufzuwachsen und gleichzeitig auf dem Weg nach Rom zu sein.

Hier zitiere ich gerne einige Zeilen von der Literaturwissenschaftlerin Aija Sakova, also von Ihnen selbst. Sie haben folgendes behauptet:
„Die Sprache ist meine Heimatstatt, mein Zuhause; die estnische, die deutsche, die Sprache generell.“ Aber auch: „Mir sind die Worte gegeben, als Mittel für die Erkundung der Welt.“ Damit drücken sie aus, was auch ich fühle und wie ich mich wahrnehme und sehe.

Ein Buch von mir trägt den Titel „Ich bin ein Buch“ (Ma olen raamat, 2010). Der Inhalt des Buches ist ein Gespräch und die Sprache und ihre Bedeutung sind darin die allerwichtigsten Gesprächsthemen. „Schattenspiel“ ist kein autobiographisches Buch, sondern man findet darin eine Welt, die aus Lebenserfahrungen des Autors zusammengesetzt ist. Niemand kann definieren, was eine Erinnerung oder eine Erfahrung genau ist und was wir eigentlich damit meinen, wenn wir das Wort „Erinnerung“ gebrauchen. Wir wissen doch, wie es ist, wenn verschiedene Zuschauer ein und dasselbe Ereignis schildern. Alle haben verschiedene Erinnerungen und somit auch verschiedene Geschichten.

Übrigens erinnert sich der Mensch besonders gut nur an solche Ereignisse, die ihn irgendwie berühren bzw aufwecken, also irgendwie ansprechen. Genauso steht es mit Lesen. Jeder findet aus dem Buch nur das, was ihn anspricht. Das Lesen ist immer auch eine Selbstentdeckung. So sind auch alle Erinnerungen in gewisser Sinne Selbstentdeckungserinnerungen. Wer aber sich für Zahlen, Mengen und Ausmaßen interessiert, der soll Nachschlagewerke lesen.

 

Das Buch ist gewidmet JJ, der Ihre Heimstatt in der Welt ist. Estnische Leser können erahnen, dass hinter diesen Buchstaben Ihr Lebenspartner, der Ehemann, estnischer Schriftsteller und Diplomat Jaak Jõerüüt sich versteckt. Er ist über 20 Jahren direkt nach dem Verfall der Sowjetunion und nach der Wiederherstellung der estnischen Unabhängigkeit als Staat Botschafter Estlands in unterschiedlichen europäischen Länder gewesen. Was heißt es eigentlich, in der alten westlichen Welt, z.B in Rom, wo Sie als Diplomatenpaar gelebt haben, Estland bzw. das sog. Barbarenland im Norden Europas zu vertreten und vorüberzubringen? 

Auf diesem Weg gab es ganz verschiedene Stufen oder Etappen. Anfang der neunziger Jahre war Estland überall in der Welt noch ein ganz neues und unbekanntes Land, wirklich ein unbekanntes Barbarenland. Keiner wusste, wie dieses Land sich entwickeln wird, niemand hatte es vorgesehen, dass die Entwicklung so rasch sein wird und dass dieses Land sehr bald ein Mitglied der Europäischen Union und NATO sein wird, dass es wirtschaftlich sich gut entwickelt und dass dieses kleine Land so schnell so große informationstechnologische Fortschritte machen wird und sich als ein erfolgreicher E-Staat bekannt machen wird. Jetzt ist Estland ein Land der Infotechnologie und der Musik. Am Anfang war es aber für estnische Diplomaten unsagbar schwierig, sie mussten überall in der Welt unbeschreibbar hart arbeiten, damit die Stimme Estlands überhaupt hörbar wurde.

Unser erstes Standortsland war Finnland (1993–1997), und dort müsste man die doppelte Arbeit leisten, weil Finnland historisch und kulturell mit Estland zusammengehört und die beiden Länder zum derselben Kulturraum gehören. Deswegen gab es zwischen Finnland und Estland auch sehr viele gemeinsame Interessen und Unternehmungen und die Diplomaten sollten gegenseitig dieses Interesse benutzen, um Sachen durchzuführen und zu verwirklichen. Die Welt von damals ist unvergleichbar mit der heutigen Welt. Also, Finnland war für uns trotz der intensiven und schwierigen Zeit bekannt, weil wir dort Freunde und Bekannte hatten und weil meine Bücher bereits auf Finnisch erschienen und dort sehr beliebt waren. Auch konnten wir ja Finnisch sprechen, was ein großes Glück und eine große Hilfe war. Direkt nach Finnland aber kam aber Italien (1998–2002), eine ganz andere Welt. Zwischen Finnland und Italien blieb für mich aber Berlin, wo ich als DAAD-Stipendiatin ein ganzes Jahr (1996–1997) verbrachte. Mein Mann aber wohnte in der Zeit als Botschafter in Helsinki.

Berlin und Rom sind so verschieden, wenn es nur möglich ist, aber diese große Verschiedenheit vereint sie auch auf eine paradoxale Weise. Jedenfalls lehrte mir diese Verschiedenheit, dass alles in der Welt miteinander zusammengehört, miteinander verbunden ist. Darüber spricht auch mein Buch. 


Viivi Luik und Aija Sakova, Literaturhaus Berlin, 8. Oktober 2018. Foto: Elvira Akzigitova


Berlin und Rom sind die zentralen Spielorte dieses Romans. In dem Buch wird interessanterweise behauptet, dass die Alpen eine Art Trennlinie in Europa darstellen. Noch mehr, von Rom aus gesehen, ist alles, was oberhalb der Alpen bleibt, ein Land der Barbaren.

Die Nord-Süd-Axe ist interessant auch in dem Sinne, dass es andere Denkmuster vorschlägt und davon absieht, ständig in den Kategorien West-Ost, bzw vor und hinter dem Eisernen Vorhang zu denken.

Wenn man auch Ihre früheren Romane miteinbezieht, dann scheint es mir, dass Sie als Autorin ganz bewusst das Opfer- und Traumanarrativ von Ost-Europa vermeiden.

Meiner Meinung nach ist das Opfer- und Traumanarrativ von Ost-Europa vorübergehend und oberflächlich, weil Ost-Europa heute wieder kräftig und lebendig ist, ganz umgekehrt als man vielleicht auf dem ersten Blick denkt. Ost-Europa hat heute Erfahrungen und Kenntnisse, die die Wohlstandsgesellschaften nicht haben. Also: Was nicht tötet, macht stark.

Was damals war, ist heute schon Vergangenheit. Wir leben heute und unsere Fragen und Schwierigkeiten sind heutzutage neue und andere. Auch heutige Traumata sind neue und andere. Die Nord-Süd-Axe ist so alt wie die Welt, aber sie war lange in der Vergessenheit. Jetzt ist sie wieder aktuell und zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich.

 

In dem Roman erzählen Sie ziemlich lange über einen anderen Roman einer anderen großen Autorin, nämlich von Emine Sevgi Özdamar’s „Das Leben ist eine Karawanserei“ (1992). Könnten Sie ein bisschen darüber erzählen, warum war bzw ist dieses Buch für Sie wichtig.

Der Roman von Emine Sevgi Özdamar war für mich tatsächlich sehr wichtig. Ich las den Roman zuerst auf Finnisch, weil die finnische Übersetzerin Raija Jänicke meine Freundin war und das Buch mir sehr empfahl. Mich faszinierte, wie die Autorin Ernste und Tiefe mit feiner Ironie vereint und wie gut sie die Menschennatur kennt. Emine Sevgi Özdamar ist zweifelsohne ein(e) Brückenbauer(in), eine Menschenseelen-Übersetzer(in) und ich bin sehr dankbar dafür, dass es solche Bücher wie „Das Leben ist eine Karawanserei“ gibt und dass irgendjemand irgendwo sie immer wieder schreibt.

 

In einem Interview mit der estnischen Literaturwissenschaftlerin und Germanistin Eve Pormeister, erschienen auf Estnisch in der Zeitschrift Looming (7/2018), in dem sie ausführlich über die Beziehungen der Zeit und Literatur reden, erzählen Sie auch die Geschichte eines kleinen Gedichts bzw eines Liedes, das Sie auf Arvo Pärts Musik geschrieben haben. Das Lied heißt „Sei gelobt, Du Baum“. Da Arvo Pärt sicherlich auch ein Name im deutschen Kontext ist und lange Jahre in Berlin gewirkt hat, und weil es einfach eine sehr schöne Geschichte ist, würde ich Sie bitten, die Geschichte auch für die Deutschen Leser erzählen.

Diese Geschichte klingt so: Auf einem Schweizer Weingut in der Nähe von Willisau kam aus Erden ein Stück Weißtannenholz aus, und wenn dieses alte Holzstück analysiert wurde, stellte sich heraus, dass dieser Baumstamm seit dem Jahre 317 vor Christus dort lag. Da berühmter estnischer Komponist Arvo Pärt in der Schweiz sehr geehrt war, dann wurde entschieden, aus dem Fund Deckenholz für zwei Musikinstrumente zu machen – eine Barockvioline und eine Quinterne. Die Quinterne war als Geburtstagsgeschenk Arvo Pärt gewidmet. Da ich genau in dieser Zeit mich als Albert-Koechlin-Stipendiatin im Willisauer Kulturzentrum aufhielt, dann fragte ich bei Arvo nach, ob er nicht ein Stück für dieses Instrument aus uraltem Holz schreiben möchte. Arvo wiederum fragte von mir, ob ich die Worte für dieses Stück schreiben will. So schrieb ich den Text und Arvo verfasste dafür Musik. Dieser Stück heißt „Sei gelobt, du Baum“ und seine Erstaufführung fand vor neun Jahren in der Schweiz, in Willisau statt. Auf diese Weise sind wir alle nur Brückenbauern von Herz zu Herz.