Das Gespräch "Das alte und das neue Europa: "Schattenspiel" von Viivi Luik" mit der Autorin Viivi Luik fand statt am 22. März 2019 im Forum OstSüdOst an der Leipziger Buchmesse.
Ein souveräner Blick von Ost nach West – oder von Nord nach Süd? Viivi Luiks „Schattenspiel“ lädt den Leser auf eine Reise in unterschiedliche europäische Städte (Rom, Berlin, Helsinki, Tallinn) und in unterschiedliche Zeiten ein. Eine wichtige Stelle wird im Buch der Scham eingeräumt und wie man mit ihr umgeht. Es ist ein Buch des Mutes.
Viivi Luik, Ihr letzter Roman ist als ein souveräner Blick von Ost nach West oder auch von Nord nach Süd beschrieben worden. In einem Interview haben Sie behauptet: „Ost-Europa [ist] heute wieder kräftig und lebendig [ist], ganz umgekehrt als man vielleicht auf dem ersten Blick denkt. Ost-Europa hat heute Erfahrungen und Kenntnisse, die die Wohlstandsgesellschaften nicht haben.“
Könnten Sie diesen Gedanken vielleicht ein bisschen erläutern?
Zuerst zitiere ich gerne einige Zeilen, die ein bekannter britischer Politologe Edward Lucas vor kurzem geschrieben hat:
„Was wir gelernt haben ist, dass die einstige tiefe Kluft zwischen Ost und West immer unbedeutender wird. Wenn man ein Zeichen der wahrhaftig gefährdeten Demokratie sehen will, muss man nach Süden gucken, wo neulich zum Tage kam, dass die Partei des Vize-Premierministers Matteo Salvini, Lega Nord, direkt vom Russland finanziert wurde. Die französischen Straßenräuber-ähnlichen und nicht selten gewaltigen und antisemitischen Gelbwestler haben im Osten wenig Kollegen.“
Und noch ein paar Zeilen von Edward Lucas:
„Beim Rückflug aus der Slowakei nach London überkam mich ein merkwürdiges Gefühl: ich war soeben dabei das dynamische und interessante Teil Europas zu verlassen, und das eigenartige, aber mit Finsternis geschlagene Peripherie zu gelangen“.
Mit Hilfe dieser Zitate will ich zeigen, dass fast alles, was gestern noch selbstverständlich war, sich heute stark verändert hat. Wir sind gewöhnt, dass unseres Europas in Ost und West aufgeteilt ist, aber heute scheint Nord-Süd Axe wichtiger viel wichtiger geworden als ehemalige Ost-West Axe. Warum denn? Weil heutige Sorgen und Probleme mit der Nord-Süd-Richtung verbunden sind. So, wie es schon vor Jahrhunderten war.
Man kann darüber stundenlang diskutieren, aber wir haben heute nicht so viel Zeit dafür. Deswegen will ich ganz kurz erklären, warum meiner Meinung nach die Welt sich so stark verändert, dass die Wohlstandgesellschaften irgendwie müde und gleichgültig geworden sind, aber Ost-Europa vielmehr jünger und attraktiver wirkt. Einerseits kann man sagen, dass die Geschichte des 20. Jahrhunderts hart und grausam war, aber andererseits waren die Kriege und Diktaturen auch wie eine unsagbar schwierige Prüfung der Menschlichkeit. Ohne Schwierigkeiten, ohne solche harten Prüfungen werden die Menschen undankbar, gleichgültig und kindisch. Die heutige Welt ist eine Welt der verwöhnten alten Kinder.
In Ihrem Roman wird auch viel Raum den Unterschieden zwischen den alten südlichen Zivilisationen/Länder und den nördlichen, soz. barbarischen Ländern eingeräumt. Die Erzählerin Ihres Buches begegnet mit einem frischen Blick und lebendigem Interesse den „Katakomben der römischen Geschichte“, wie eine Kritikerin schreibt.
Die Begegnung mit Rom und seiner Geschichte ist aber gleichzeitig eine Begegnung von Fremden sowie alten Bekannten, vielleicht sogar Verwandten. Es heißt im Roman, dass das ganze Leben der Erzählerin eine Reise nach Rom gewesen ist, auch wenn sie im sowjetischen Estland aufgewachsen ist. Eine eigenartige Gleichzeitigkeit?
Rom ist mehr ein Symbol als eine Stadt. Ein Symbol des Christentums. Und wenn wir begreifen, dass unserer Heimat Europa ist, dann nehmen wir auch Rom ganz anders wahr. Rom ist immer noch die Hauptstadt des Christentums und weil das Christentum der Grundbau der Kultur Europas ist, dann kann man sagen, dass Rom die Hauptstadt von Europa ist. Da spielt es keine Rolle, ob du im sowjetischen Estland aufgewachsen bist oder nicht, trotzdem stammst du aus Europa und trotzdem ist und bleibt Rom deine Hauptstadt. Hier will ich fragen, ob nicht das Ablegen des Christentums, das die europäischen Intellektuellen der älteren Generation uns so tief einverleibt haben und das immer schmerzhafter unsere europäische Heimat, die Heimat des hier in einem gemeinsamen Kulturraum lebenden Menschen, berührt, ein großer Irrtum mit unvorhersehbaren Folgen ist?
Erlauben sie mir mit einem weiteren Zitat abzuschließen, es stammt von Angela Merkel:
„... uns fehlt der Mut zu sagen, dass wir Christen sind, der Mut in einen Dialog einzutreten, ...mal wieder in den Gottesdienst zu gehen, oder ein bisschen bibelfest zu sein und vielleicht auch mal ein Bild in der Kirche noch erklären zu können. Und wenn sie mal Aufsätze in Deutschland schreiben lassen, was Pfingsten bedeutet, da würde ich mal sagen, ist es mit der Kenntnis über das christliche Abendland nicht so weit her. Und sich dann anschliessend zu beklagen, dass Muslime sich im Koran besser auskennen, das find ich irgendwie komisch. Und vielleicht kann uns diese Debatte auch mal wieder dazu führen, dass wir uns mit unseren eigenen Wurzeln befassen und ein bisschen mehr Kenntnis darüber haben...Das sage ich als deutsche Bundeskanzlerin.“
Ihr Roman ist als ein Buch des Mutes beschrieben worden. Ende des Kapitels „Die Hure Babylon“ sagt im Roman ein deutscher Kritiker der Erzählerin folgendes: „Schreiben Sie auf jeden Fall darüber, wofür Sie sich am meisten schämen. Sagen Sie nicht, dass Sie sich keiner Sache schämen. Lügen Sie nicht.“
Ich habe Sie auch über die Aufgabe des Schriftstellers die Wahrheit zu sagen, wahrhaftig zu sein, reden gehört. Könnten Sie vielleicht diese Rolle nochmals erläutern?
Man kann sagen, dass diese Aufforderung darüber zu schreiben, wofür man sich schämt, also was im Schatten bleibt, was nicht gezeigt wird, also das Unsichtbare, das Verborgene zu zeigen, eine der wichtigsten Funktionen der Literatur ist.
Heute braucht man viel Mut, darüber zu sprechen, wofür die Menschen sich schämen und worüber man nicht mehr spricht, weil Literatur sich zu oft nicht mehr mit Tiefen und Schatten der Menschenseele beschäftigt, sondern ein Zeitvertrieb geworden ist. Nicht nur die Schriftsteller, sondern alle Menschen brauchen heute viel Mut, um die Wahrheit zu sagen und anders zu denken als allgemeine Meinung vorschreibt.
Ich habe einmal geschrieben, dass es ein Paradox ist, dass ihre Romane, geschrieben in der estnischen Sprache – in einer Sprache, die knapp über eine Million Sprecher als Muttersprachler hat – gleichzeitig Romane der Weltliteratur sind, dass sie Dialogpartner in der Weltliteratur brauchen. Sehen Sie die estnische Sprache als Hindernis oder als Möglichkeit? Welchen Stellenwert haben unterschiedliche Sprachen für Sie?
Natürlich ist eine so kleine Sprache, wie estnische Sprache, ein Hindernis. Aber wer hat gesagt, dass eine kleine Sprache keine großen Verfasser haben darf?!
Auch wenn die Sprache klein und unbekannt ist, ist sie ein Teil von Sprachen der Welt, und auch die kleine Literatur kann ein Teil von der Weltliteratur sein. Das Leben ist immer auch ein Paradox und was ein Hindernis scheint, kann auch gleichzeitig eine Möglichkeit sein. Eine ganz besondere Erfahrung für einen Schriftsteller. Jedenfalls ist die estnische Sprache meine Heimat, und so wie estnische Literaturwissenschaftlerin Aija Sakova, kann auch ich sagen, dass „die Sprache, die estnische, die deutsche, die Sprache generell, meine Heimatstatt, mein Zuhause ist“. Auch sagt sie: „Mir sind die Worte gegeben, als Mittel für die Erkundigung der Welt.“ Damit drückt sie aus, was auch ich fühle und wie ich mich wahrnehme und sehe.
Je kleiner eine Sprache ist, desto brennender braucht sie Meister der Worte, weil eine kleine Sprache sich immer wieder neu zur Welt bringen soll.