Nochmal zum Arno Kleinebeckel's Lyrikband "Blue Hour. Lyrics" (2020).
Die Rezension ist zunächst erschienen bei Versalia.de.
Die Rezension ist zunächst erschienen bei Versalia.de.
Arno Kleinebeckels Lyrikband „Blue Hour“ ist zu Beginn des Corona-Frühlings erschienen. Möglicherweise genau zur rechten Zeit, denn er spiegelt die Absurdität der alltäglichen Wirklichkeit. Und eine einfache Tatsache, nämlich dass es an der Zeit ist, die Zeit zu „zerschneiden“ und innezuhalten, wird beim Lesen auch klar.
Die hier vorgelegten Gedichte (es ist Kleinebeckels zweiter Lyrikband) vermitteln mehr als nur ein vages Gefühl, etwa dass es notwendig sein könnte, in einer Welt wie dieser die Bremse zu ziehen: Die Selbstverortung des Individuums steht zur Debatte. Das bürgerliche, selbstsichere Ego stößt in der Blue Hour ultimativ an seine Grenzen. Manche der Gedichte lesen sich wie eine zivilisatorische Bilanz des Schreckens, mitten in der Haltlosigkeit geronnener Unwahrheiten, in denen auch das Unbehagen steckt angesichts der unumkehrbaren Technologisierung und Mechanisierung des Seins; wäre das jemals rückgängig zu machen?
„Meine Hand ist eins mit dem Lenkrad“ konstatiert das fahrende, flüchtende Ich:
„Die Leichtigkeit des Fahrens
steht in keinem Verhältnis
zur Schwierigkeit des Lebens.“
Man erreicht beim Lesen zugleich mit einem derart Unbehausten den Punkt, an dem die Schwierigkeit des Lebens, das Menschsein, nicht mehr gelingt. Vieles ist möglich, doch die technischen Errungenschaften liefern nicht Sinn und Obhut. Dem Einzelsubjekt ist die Identität abhanden gekommen. Das Subjekt, bei Kleinebeckel gern versetzt in den figürlichen Rahmen der Großstadt und seiner Straßen („Die Straße, nur ein sinnloses Band“), ist nicht mehr Handlungsträger, sondern Getriebener.
Manchmal fühlt es sich an, als sei der Protagonist der Blue Hour genauso routiniert unterwegs wie verloren. Er muss weiter. Die Suche wird zum Selbstzweck. Es gibt Ruhepole in der Bewegung der Straße, kurz aufflackernde Momente, präzise beobachtet, Mosaikstücke einer „anderen Erfahrung“, eines „anderen Lebens“, aber dann doch kein Ziel, kein Nachhausekommen; es ist da kein Platz in einem fragwürdig gewordenen Universum, das mit einem zwiespältigen Blau aufwartet.
Aber eines bleibt auch festzustellen: Das lyrische Ich der Blue Hour wird durch das Fahren und das Auf-dem-Weg-Sein extrem wach und sensibel gegenüber der Wirklichkeit. Der Getriebene ist zugleich Augenzeuge und wahrheitsgetreuer Notar dessen, was vorgeht.
Obwohl es „wenig Hoffnung auf Ankunft“ gibt, sind da Hoffnungssplitter, mal in zufälliger Begegnung, mal versteckt im Wind, im Blödeln eines Kindes, im Leuchten längst vergangener Liebe. Da ist „eine Gebärde, ein endloses Sehnen“. Das Blau des Himmels täuscht nicht nur. Oder doch?
Kleinebeckels Lyrik ist, wie auch im Nachwort zum Buch selbst angedeutet, eine Auseinandersetzung mit der vom Spätkapitalismus kolonisierten Wirklichkeit und mit dem „Moloch der Gleichgültigkeit“. In seinen Texten begegnen uns Menschen, die einerseits von Nähe und größerer Natürlichkeit träumen, während sie gleichzeitig als Teil des Kultursystems gesellschaftliche Phänomene wie soziale Kälte, Selbstinszenierung und Entfremdung reproduzieren.
Bei allem Kulturpessimismus: Obwohl die Schlucht, durch die das Ich fährt, „aus Stein und Glas“ ist, weiß es (noch) von Begegnungen mit wahren, möglicherweise mit sehr natürlichen Menschen. Oder auch mit einem richtigen Gepard.
Arno Kleinebeckel: “Blue Hour. Lyrics”. Athena-Verlag, Oberhausen, 2020. 76 Seiten