Am 25. April 2024 besuchte die österreichische Schriftstellerin Karin Peschka während einer Lesereise durch Estland, Lettland und Litauen auch Tallinn. In der Estnischen Nationalbibliothek las sie aus Ihren letzten Roman „Dschomba“. Die vorgelesenen Abschnitte waren durch die Studierende der Universität Tartu unter der Leitung von Hella Liira auch ins Estnische überstetzt worden.
Frau Peschka, Ihre Werke sind im Estnischen noch nicht erhalten. Die Studierende haben Abschnitte ins Estnischen übertragen, aber Ihre Schreibweise muss sicherlich eine Herausforderung für die Studierenden gewesen sein. Zum einen geht es um das Vokabular, Sie benutzen sowohl Wörter, die es nur im Österreichischen gibt, als auch Begriffe aus dem ländlichen Leben (Kalbskopf, Kalkeier uä). Zum anderen ist Ihre Erzählweise und Satzstruktur nicht gerade konventionell. Statt der schriftlichen Sprache halten sie sich an die gesprochene Sprache.
Für mich ist die Sprache ein Teil der Atmosphäre einer Szene, sie ist etwas, was automatisch dazu kommt. Das Bild kommt auf diese Weise zu mir und so erzähle ich es auch. Manche Bilder brauchen eine Sprache, die unter dem Kirchkreuzgewölbe schwebt, andere aber eine Sprache, die über den Boden gezogen wird.
Sie halten sich nicht an die Punktion, manchmal fallen Wörter weg. Sie schreiben so wie man in der Sprache ist.
Ich mache das nicht bewusst absichtlich. Vielleicht kann man es mit dem Film, mit dem Schnitt bei einem Film vergleichen. Wenn eine Szene brutal ist oder wenn der Film schnell ist, dann wird anders geschnitten. So ähnlich geht es auch beim Schreiben.
Ich sehe etwas auf eine bestimmte Weise und folge dem.
Im Roman findet man auch die serbische Sprache und hinten ein Glossar der serbischen Wörter und Sätze. Welche Rolle spielt die Mehrsprachigkeit in Ihrem Leben? Wenn ich mich richtig erinnere, gibt es im Roman eine Stelle in der es darum geht, wie wäre es, wenn man alle Sprachen gleichzeitig nebeneinander stehen hätte (zB zur Bezeichnung eines Gegenstandes).
Ich habe die Liebe zur Sprache, aber nicht so großes Talent dafür. Ich
spreche Deutsch, österreichisches Deutsch, Englisch, ein bisschen Französisch.
In jedem meiner Bücher kommt eine Sprache vor, die ich nicht spreche. Aber wenn
ich auf Lesungen bin, dann bin ich immer nervös, ob nicht im Publikum jemand
ist, der die Sprache kann und mich und meine Aussprache korrigieren wird.
Ich höre sehr gern zu, wenn jemand eine Sprache spricht, die ich nicht verstehe. Es ist es sehr schön für mich, fern zu lauschen.
Sie haben gesagt, dass das Gefühl von Beheimatetsein darin besteht, im Dialekt reden zu können, wenn man müde wird. Als Denkexperiment, könnten Sie sich vorstellen in einer anderen Sprache beheimatet zu sein?
Ja, natürlich. Sonst wäre ich nicht Schriftstellerin geworden.
Zufall spielt in ihrem Leben eine große Rolle, zumindest demnach, wie Sie über Ihr Leben erzählen. Heißt es, dass Sie dem Leben vertrauen?
Vielleicht ist es umgekehrt und das Leben vertraut mir.
Ich bin sehr pragmatisch und gleichzeitig neugierig. Dies ist eine gute
Kombination, glaube ich, um durch die Türen zu gehen, die sich einem im Leben
zeigen.
Sie haben mit 47 Jahren mit dem Roman „Watschenmann“ (2014) debütiert und seitdem haben Sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten. Wann haben Sie erkannt bzw gewusst, dass das Schreiben soz. Ihr Ding ist?
Dazu würde ich den Begriff des Schreibens etwas anders definieren als „nur“ die Tätigkeit des Hinschreibens.
Ich habe als Kind sehr viel gelesen. Vielleicht teils um von der Arbeit im Wirtshaus wegzukommen. Ich werde ja oft über das Schreiben gefragt und beim Nachdenken ist mir bewusst geworden, dass ich sehr früh begonnen habe, Bilder in Worte umzusetzen. So rufen z.B. fliegende Vögel über dem Feld in mir eine wörtliche Reaktion hervor und dies ist, so denke ich, schon das Schreiben in seiner ursprünglichen Form.
Ich schreibe ja nicht nur so vor mich hin. Ich schreibe, um etwas in Sprache umzusetzen.
Sie reden von Bildern, aber es sind eigentlich Sprachbilder. Vielleicht ist die Welt und die Erfahrungen wirklicher, wenn man sie in der Sprache ausgedrückt und verschriftlicht hat.
Verschriftlichung ist wie ein Filter oder eine Übersetzung der Welt. Vielleicht weil ich nicht so viel Vertrauen der Welt gegenüber habe oder weil ich nicht alles gleich verstehe, kann ich durch das Schreiben mir vieles genauer anschauen und somit besser verstehen. So bin ich in gewisser Weise wie ein Kind, das dem Erlebten dadurch neu begegnet.
Im Roman „Dschomba“ gibt es auch Stellen, an denen Sie autobiographisch erzählen. Man findet im Buch solche Ausdrücke wie „Geschichten zutragen“, „Auf Geschichten hoffen“, „sich auflösen, eins werden mit der braunen Gastzimmereinrichtung, zum Möbel werden“.
Als Kind, das im Wirtshaus aufgewachsen ist, war ich von Geschichten umgeben. Ich habe viel am Stammtisch gesessen und zugehört, was die Männer beim Kartenspielen erzählt haben. Es waren meistens Geschichten vom Zweiten Weltkrieg. Ich bin im Jahre 1967 geboren und somit war es zeitlich nicht so weit weg. Es waren also immer reale Geschichten, die mich umgeben haben, und nicht Märchen.
Sie waren wie ein Schwamm, das alles in sich hineingesaugt hat, was es hörte.
Diese Beschreibung trifft ganz gut. Ein bisschen Schwamm bin ich immer noch.
„Dschomba“ spielt in Eferding und dessen Umgebung. Es ist der kleine Ort in Oberösterreich, in dem auch Sie aufgewachsen sind und teils auch heute leben. Etwa 6 km von Eferding entfernt befand sich in der Zeit des ersten Weltkrieges das Kriegsgefangenlager Aschach/Hartkirchen. Heute befindet sich dort der Kriegerfriedhof Deinham. Dort sind mehr als 5300 Serben, mehr als 400 Italiener und während des II Weltkrieges auch die Soldaten der sowjetischen Armee begraben worden. Das damalige Lager war etwa für 30 000 Menschen gebaut.
Dieses Lager war tatsächlich der Anlass für den Roman. Davon ist heute nur ein sehr kleiner Lagerfriedhof erhalten geblieben ist, obwohl das Lager selbst ja groß war. Außerdem liegt der Friedhof versteckt, zwischen den Feldern und ist kaum zu finden. Das Lager wurde tatsächlich zuerst während des Ersten Weltkrieges gebaut, danach aufgebaut und während des Zweiten Weltkrieges etwas versetzt wiederaufgebaut.
Was mich erstaunt hat, war, dass wir diesen Teil der Geschichte in der Schule nicht gelernt hatten. Ich hatte von diesem Friedhof durch einen Zufall erfahren. Ich habe nämlich einmal meinen Vater gefragt, warum dort so viele Menschen begraben liegen. Dort gibt es ein Schild und mehr nichts. Er hat es mir dann erzählt. Dann habe ich meine Schwester, meinen Bruder und meine Freunde im gleichen Alter wie ich danach gefragt, ob sie etwas von diesem Lager wüssten. Die wussten ebenso nichts; das hieß, dass nicht nur ich in der Schule nicht aufgepasst hatte, sondern wir tatsächlich davon nicht erfuhren.
Ich wollte mir es ansehen, unter diese Kulturlandschaft mit schönen Feldern
schauen. Wenn man sich einen alten Menschen vorstellt, dann kann man, wenn man
genau hinschaut, hinter der Haut des alten Menschen den jungen sehen, der ja
immer da. Genauso wollte ich quasi dem Land unter die Haut schauen.
Kann man dieses Nicht-Sprechen als Verschweigen der Geschichte betrachten?
Ich glaube nicht, dass es ein absichtliches Verschweigen war. Ich glaube, es ist eher die Tatsache, dass man nach einer schwierigen Zeit darüber eine Zeitlang nicht sprechen will und sogar sprechen kann, und dann verschwindet es in der Vergangenheit. Als ich gefragt habe, habe ich gleich eine Antwort bekommen, die nicht mit Scham verbunden war. Der Makel ist, dass es bei dem Friedhofsschild keinen Kontext gibt. Mein Roman und die Erfindung von Dschomba ist meine Art und Weise diesem Lagerfriedhof einen Kontext zu schaffen und es somit vor dem Verschwinden zu retten.
Sie haben an diesen Stellen, an denen Sie autobiographisch schreiben, gegen die Ich-Form entschieden. Wieso?
Ich habe ursprünglich diese Stellen in der Wir-Form geschrieben. Ich selber war ja mit zehn Jahren noch kein Ich. Ich war alles andere als ein Ich.
Nach ein paar Kapiteln bin ich darauf gekommen, dass es zu kompliziert ist. Meine Sprache ich teils sowieso schon zu artifiziell und es wäre zu viel geworden. Dann habe ich es zurückgenommen und zum Ich umgeschrieben. Dies war ein Kompromiss und ich war damit nicht zufrieden.
Mein Lektor hat mich daran erinnert, dass ich nicht ohne Grund auf das Ich verzichtet habe. Es gibt sehr wenige Autoren, die in der Ich-Form über die Kindheit erzählen können. Das hätte mich nicht geschreckt, das wäre eine Herausforderung gewesen, aber dann habe ich das Infinitiv für mich entdeckt. Wenn man z.B. an diese zwei Sätze denkt:
„Ich stehe im Hof und sehe zum Fenster hinauf.“ vs „Im Hof stehen und hinaufschauen.“ Beim zweiten Satz ist man in der Person. Als ich diese Lösung gefunden hatte, war das ein Gänsehaut-Moment für mich.
Dann war die Frage, ob ich das durch das ganze Buch durchziehen kann.
Sie mögen Herausforderungen?
So ist es. Wenn man mir sagt „Das schafft Du nicht.“, ist meine Antwort „Na, schauen wir mal.“
Vor Ihrer Schriftstellerarbeit haben Sie mit alkoholsüchtigen Menschen gearbeitet und mit denen Biographiearbeit gemacht. Was bedeutet diese Biographiearbeit und wie sieht es aus?
Als Sozialarbeiterin habe ich mit Alkoholkranken oder Drogensüchtigen gearbeitet; ich habe mit ihnen Gespräche über ihr Leben geführt. Sie kamen in die Klinik und blieben dort bis zu 8 Wochen zur Entwöhnung. Das Ziel der teils sehr langen Gespräche war herauszufinden, wo das Übel begonnen hat, wo die Sucht zugeschlagen hat. Diese langen Gespräche habe ich aufgeschrieben und mit den Patienten gemeinsam analysiert.
Die Verschriftlichung der Lebensgeschichte ist somit eine Art sein eigenes Leben von der Seite zu betrachten.
Genau. Mit „Dschomba“ habe ich die gleiche Methode benutzt. Ich habe dieses Kind beobachtet, das ich damals war. Manche Kinder brauchen viel Aufmerksamkeit und ich war so ein Kind. Als Wirtskind habe ich die Aufmerksamkeit oft nicht bekommen, aber ich hätte sie gebraucht. Vielleicht hat mein Hineintauchen in die Phantasiewelt dort seine Wurzel.
Seit ich „Dschomba“ geschrieben habe, schaue ich auch auf das Kind, das ich damals war, ganz anders. Es war nicht so geplant, aber in gewisser Weise habe auch ich mit diesem Roman Biographiearbeit geleistet.
Dann haben Sie sich selber gegenüber das getan, was Sie als Wirtskind gelernt habe: auf die Menschen und deren Bedürfnisse zu achten. Nun haben Sie mitunter auf sich selber geachtet.
Tatsächlich habe ich mir eine wohlwollende Aufmerksamkeit geschenkt.