Jenny Erpenbeck untersucht die Rolle der Willkür in der Geschichte und im Leben der Menschen

Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck war im Mai 2023 zu Gast in Tallinn. Am 10. Mai hatte sie einen Autorenabend in Tartu im Rahmen des Literaturfestivals Prima Vista und am 11. Mai eine Begegnung mit den Lesern in der Estnischen Nationalbibliothek im Rahmen des Deutschen Frühlings. In Tallinn hat Jenny Erpenbeck aus Ihrem Roman „Aller Tage Abend“ gelesen. Ebenso sprachen wir über historische Willkür, über die Übergänge zwischen unterschiedlichen Epochen, aber auch über persönliche Verluste und Trauer.


Ihr erstes Buch „Geschichte vom alten Kind“ ist im Jahre 1999 erschienen. Sie waren damals knapp über dreißig und arbeiteten als Opernregisseurin. Zuvor studiert hatten Sie Theaterwissenschaft und Opernregie. Wie kam es zum Schreiben der Romane?

Jenny Erpenbeck (JE): Meine Großeltern waren schon Schriftsteller, auch mein Vater. Und meine Mutter übersetzte arabische Literatur ins Deutsche. Insofern erschien mir das Schreiben als eine vertraute Form, mich auszudrücken.

Was ist es, was ein Roman ausdrücken kann, was in anderen Kunstformen nicht so ausdrückbar ist?

Ich glaube, manche Stoffe verlangen bestimmte Formen. Wenn man eine Geschichte erzählen will, die einen langen Zeitraum beschreibt, die vielschichtig ist und in der die Figuren komplexe Beziehungen miteinander eingehen – dann ist am Ende plötzlich ein Roman da.

Warum schreiben sie? Ist das Schreiben für die eine Notwendigkeit etwas auszudrücken und etwas zu recherchieren?

Ich finde es immer etwas seltsam, wenn jemand voller Pathos sagt, er müsse schreiben, er könne sonst nicht existieren. Ich denke, man muss essen, trinken, schlafen, möglichst auch ein Dach über dem Kopf haben, aber schreiben muss man nicht, das will man – oder will es auch nicht.

Ich denke, es ist ein großes Privileg, von Beruf Schriftstellerin zu sein. Ich kann mir die Zeit nehmen, über die Dinge, die mich beschäftigen, in Ruhe nachzudenken. Ein oder zwei oder drei Jahre lang. Es gibt auch Krisen beim Schreiben, das ist ganz klar, man ist ja sehr allein mit allen Fragen. Aber andererseits heißt das auch, dass ich mir die Themen selbst aussuchen kann und dabei sehr frei bin.

Sie interessieren sich für die Beziehungen zwischen dem Menschen und der Zeit und für die Vorbestimmtheit eines Lebens durch die Zeit. Ist der Mensch in seiner Zeit verhaftet?

Es hat sich bestimmt jeder schon einmal gefragt – oder fragt sich vermutlich täglich – was es eigentlich heißt, in eine bestimmte Zeit hineingeboren zu sein. Zu einer anderen Zeit, unter anderen politischen und historischen, und natürlich auch persönlichen Umständen wäre man selbst jemand ganz anderer geworden, wäre der Lebensweg ein ganz anderer gewesen. Es ist im Grunde genommen nur die Zeit, die einen von anderen, ebenso möglichen Biographien trennt. Aber was ist eigentlich Zeit? Man kann sie nicht sehen, und was ein Übergang ist, versteht man nicht. Ich jedenfalls verstehe es bis heute nicht. Es ist eines der großen Mysterien, wann und wie der Moment der Entwicklung, des Kippens von einem Zustand zu einem anderen, sich tatsächlich vollzieht.

Was meinen sie genau mit dem Übergang?

Um das Beispiel zu nehmen, das uns am nächsten ist: Wir alle waren ja einmal Kinder – und sind jetzt erwachsene Leute. Während wir älter werden, verwandeln wir uns immer wieder: Wir lernen, wir haben Beziehungen, wir müssen lernen, mit Verlusten umzugehen, wir wechseln den Wohnort. Wir bleiben der- oder dieselbe, und zugleich werden wir immer wieder jemand anderes, neues.

In meinem Roman „Aller Tage Abend“ versuche ich solche Übergänge im Leben eines Menschen zu untersuchen. Die Tode, die die Hauptfigur stirbt, und die immer wieder zurückgenommen werden, sind solche Momente, an denen Übergänge stattfinden, an denen Entscheidungen in die eine oder die andere Richtung entweder von ihr oder von anderen für sie getroffen werden. In jedem dieser fünf verschiedenen Leben sieht man sie als eine ganz neue Person und lernt sie auf eine ganz neue Art kennen. Und was ihr widerfährt, hat auch Folgen für die Leben der anderen – zieht andere Übergänge nach sich.

„Aller Tage Abend“ fängt mit dem Thema von Verlust und Trauer an. Welche Bedeutung haben diese Themen für Sie?

Die verschüttete Vergangenheit, und damit der Verlust von Herkunft und Erinnerung – das sind eigentlich vom ersten Buch an meine Themen gewesen, aber ich habe es erst viel später gemerkt. Ich komme aus der DDR, einem Land, dass es nicht mehr gibt. Nach dem politischen Umbruch 1989 waren plötzlich sehr viele Dinge anders, im Guten wie im Schlechten, es gab die beunruhigende Erfahrung, sich im eigenen Land plötzlich nicht mehr auszukennen, und statt endlich „mündige Bürger“ zu werden, wie es die Opposition in der DDR gefordert hatte, wurden wir doch wieder nur Schüler. Schüler, die lernen mussten, wie die neue, kapitalistische Gesellschaft funktioniert. Nach einer kurzen Phase der Selbstermächtigung in den drei Monaten zwischen November 1989 und Januar 1990 kam die erneute Entmachtung. Dieser Kontrollverlust hat meine Generation geprägt, ebenso die Trauer, die, für viele unerwartet, im Gefolge der ersten Mauerfall-Euphorie mit den Alltagserfahrungen der Jahre danach kam – mit Arbeitslosigkeit, hohen Lebenshaltungskosten, Rückübertragung vieler Grundstücke an die Alteigentümer.

Aber natürlich kamen im Laufe des Lebens auch ganz persönlichen Erfahrungen  dazu. Nach dem Tod meiner Mutter musste ich lernen, mit meiner Trauer umzugehen. Ich kam aus dem Nachdenken über die Plötzlichkeit und Unwiderruflichkeit dieses Verlusts nur schwer heraus. Und es passierten merkwürdige Dinge, zum Beispiel fand ich, als ich mit der Auflösung ihres Haushalts beschäftigt war, plötzlich im Keller meine eigene Kindheit wieder – Erinnerungsstücke aus der Zeit, in der ich so klein war wie unser Sohn, der damals gerade den Kindergarten besuchte. Plötzlich wurden Verflechtungen quer durch die Zeiten sichtbar. Zwei, drei Jahre danach habe ich begonnen, „Aller Tage Abend“ zu schreiben.



Es ist wahrscheinlich schon ein Klischee, aber wie oft passiert es, dass sie den Leuten erklären müssen, was es hieß, in der DDR zu leben?

Seit ich „Kairos“ geschrieben habe, häufiger. Aber gerade heute wächst ja auch wieder das Interesse an Alternativen zum globalisierten Kapitalismus. Da will man verstehen, warum und inwiefern es andere Idee vom Zusammenleben in einer Gesellschaft gab, und man will auch und vor allem verstehen, woran sie gescheitert sind.  

Meine Großeltern Hedda Zinner und Fritz Erpenbeck waren Kommunisten, sie sind gleich nach Hitlers Machtantritt aus Deutschland emigriert und in die Sowjetunion gegangen, um dort eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen, wie sie glaubten – und gehörten dann zu den wenigen, die das Glück hatten, unter Stalin zu überleben und nicht, wie unzählige andere Kommunisten, von ihren sowjetischen Genossen in ein Lager gesteckt oder gleich zum Tode verurteilt zu werden. Meine Großeltern waren grundanständige und vernünftige Menschen – und es war für sie trotz der bitteren Erfahrungen des Exils keine Frage für sie, dass sie am Aufbau eines sozialistischen, dezidiert antifaschistischen Deutschlands mitarbeiten wollten. Und dennoch ist die DDR, der Staat, der durch diese Generation der Ost-Emigranten begründet wurde, gescheitert. Ich glaube, dass die Gründe für das Scheitern neben wirtschaftlichen Ursachen auch in den Erfahrungen dieser Emigranten zu suchen sind, in der Sprachlosigkeit zwischen der älteren Generation und den jungen Leuten. Einer Sprachlosigkeit, die ihren Grund hatte in den Ängsten, dem Schweigen und der domestizierten Sprache, die die Älteren aus der Sowjetunion mitgebracht hatten. Die Schauprozesse in den dreißiger Jahren, die sich später in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei noch einmal wiederholten, hatten das Prinzip der „Kritik und Selbstkritik“ ad absurdum geführt, oft mit tödlichen Folgen für die Angeklagten. Später hieß es oft: Wer Kritik übt, arbeite dem Klassenfeind zu. Ein Land aber, in dem echte, produktive Kritik fehlt, funktioniert nicht.

Ein Thema in Ihrem Roman ist auch die Frage der Weltanschauung. Ist es eine Wahl, ein Kommunist zu sein, ist es zeit- und umständenbedingt? Inwieweit wählt man seine Weltanschauung?

Es ist eine interessante Frage, woher unsere Meinungen, unsere Überzeugungen kommen, die wir so selbstverständlich für gegeben halten. Es kann sein, dass es die familiäre Erziehung ist, die uns prägt – sei es in der Identifikation mit den Eltern oder im Opponieren. Es sind die Bücher, die wir lesen, die Freunde, deren Meinung uns wichtig ist – und natürlich die Erfahrungen, die wir selbst machen. Wäre man unter anderen Umständen geboren, erzogen worden, hätte man vielleicht eine ganz andere Meinung und Weltanschauung mit ebensogroßer Überzeugung vertreten. Ein geradezu unheimlicher Gedanke ist das. In meiner Novelle „Wörterbuch“ habe ich mich mit dieser Frage beschäftigt.



Ist dieses Gedankenspiel „was wäre wenn ….“ immer für Sie wichtig gewesen?

Mich hat immer interessiert, dass es viele verschiedene Blicke auf ein und dieselbe Sache gibt. Und dabei ist jeder Einzelne doch immer in seinem eigenen Kreis und glaubt, dass seine Sicht die einzig mögliche sei.

In meinem Roman „Heimsuchung“ schreibe ich zum Beispiel über ein Grundstück und ein Haus und erzähle zwölf Geschichten von Menschen, die diesen Ort im Laufe der 20. Jahrhunderts bewohnt haben und ihn, aus unterschiedlichen Gründen, verlassen mussten. Für jeden dieser Bewohner ist der Ort auf andere Weise Heimat, und auch der Verlust dieser Heimat bedeutet immer wieder etwas anderes. Wie wird man mit so einem Abschied fertig – von einem Ort, einem Menschen, letztendlich vom Leben insgesamt? Und was, wenn die historischen Umstände andere gewesen wären? Und schon ist man bei der Frage, was wäre wenn….

Wahrheit aus einer einzige Perspektive ist, scheint mir, grundsätzlich eine schwierige Sache. Ich finde es interessanter, die Zentralperspektive zu verlassen und mehrere Geschichten aus der Distanz anzuschauen, und in ihrer Relation zueinander. Ungefähr so schaut wahrscheinlich auch eine Fliege die Welt an, mit ihren unzähligen unterschiedliche Teilaugen.

Ist es auch eine Art Übung in Empathie, sich in die Schuhe der Anderen zu versetzen?

Wenn man Empathie als Technik betrachtet, dann natürlich. Wenn Shakespeare Richard den Dritten schreibt, dann versetzt er sich auch mit Spaß in jemanden, der ein übler Charakter ist. Ich glaube, um Dinge zu erkennen und zu ergründen, muss man sich Leute und deren Lebenswege und Entscheidungen zunächst einmal ohne ein im Vorhinein fertiges moralisches Urteil anzuschauen. Ein Schriftsteller will ja zunächst einmal verstehen, was überhaupt vorgeht: was unterschiedliche Menschen machen, wie sie sich verhalten, wie das, was ihnen zustößt, in größere Prozesse eingebettet ist, und so weiter. Erst dann wird sichtbar, welcher Art die Beziehungen sind, die die Figuren miteinander eingehen, und was deren Handeln auslöst, und was dieses Handeln für Wirkungen hervorruft. Bewerten soll der Leser, der Schriftsteller soll vor allem genau hinschauen.  

Hat der Roman „Aller Tage Abend“ für Sie auch dazu beigetragen, die Geschichte Ihrer Großeltern zu verstehen?

Der Anlass das Buch zu schreiben, war, wie bereits gesagt, die Trauer über den Tod meiner Mutter - und keine „Hagiographie“ meiner Großeltern. Dennoch habe ich mich, was die einzelnen Lebensphasen angeht, an der Biographie meiner Großmutter orientiert – das Material war für die Untersuchung, die ich schreibend anstellen wollte, einfach sehr gut, und ich war damit vertraut. Dennoch ist das Material nur das eine, und wo es mir wichtig und richtig erschien, habe ich mich davon entfernt, teils auch sehr weit davon entfernt. Meine Großeltern waren zum Beispiel – und gottseidank! – nie verhaftet, sie sind beide lebendig nach Deutschand zurückgekehrt. Natürlich habe ich aber durch meine Recherchen auch Entdeckungen gemacht, gerade in Bezug auf die schwierigen dreißiger Jahre in der sowjetischen Emigration.

Der Roman erinnert die Leser mitunter auch an die Abhängigkeit vom sterblichen Körper.

Ich habe versucht, die verschieden Arten von Willkür und Zufall zu beschreiben, die zu einem Tod führen können. Dabei spielt bei mir die Krankheit allerdings die kleinste Rolle. Viel wichtiger ist die Willkür der Bürokratie, die Willkür der Politik, aber auch die Liebe kann zum Tode führen. Es bleibt auf jeden Fall absurd, dass viele geistige Auseinandersetzungen und Krisen noch immer über die Physis des menschlichen Körpers, durch die schiere Vernichtung menschlichen Lebens ausgetragen werden.  

Mensch sein heißt also akzeptieren, dass wir sterblich sind und wir der Willkür des Lebens ausgesetzt sind.

So würde ich das nicht sagen. Gegen politische Willkür, die dem Menschen tödlich ist, kann und muss man sich wehren. Und es gibt im Buch auch den Blick auf die Dinge, die bleiben, oder die sich weiterentwickeln, selbst wenn derjenige, durch den sie in Gang gesetzt worden sind, stirbt. Es gibt die Weitergabe von Erfahrungen an die nächste Generation. Es gibt das geistige Erbe. Wie man spricht, wie man denkt, mit Problemen umgeht – all das das kann erhalten bleiben, wenn es gelingt, es mit der nächsten Generation zu teilen. Und natürlich sind die Kinder eine Art von ewigem Leben. Sie sind eigene Menschen, aber in ihnen leben auch die Eltern weiter – ein geniales Prinzip der Natur.  



Die Beziehungen zwischen den Generationen spielen für Sie also eine wichtige Rolle?

Ja, eine große Rolle. Und besonders interessant ist das Hindurchwanderns eines Menschen durch die Generationen während seines Lebens. Auch im Buch beschreibe ich ja, wie manche der Figuren durch das Altern sozusagen die Seiten wechseln. Es gibt da zunächst Erfahrungen, die die Tochter mit der Mutter macht, aber wenn die Tochter dann selbst älter wird und eine Mutter ist, sagt sie plötzlich dieselben Sätze zu ihrer Tochter wie die Mutter damals zu ihr. Als hätte sie vergessen, was es heißt, jung zu sein.

Ein wichtiges Thema sind auch die Familiengeheimnisse. Die Wahrheiten werden den Kindern ja zunächst von den Eltern zugeteilt. Aus guten und aus schlechten Gründen überlegen Eltern, wann und ob überhaupt sie dem eigenen Kind etwas erzählen sollen, oder was besser verschwiegen bleiben sollte – für eine Zeit, oder auch für immer. Manchmal legt dann der Tod etwas offen, es werden in den Hinterlassenschaften Entdeckungen gemacht, und beinahe immer gibt es durch den Einschnitt, den der Tod eines Familienmitglieds macht, so eine Art Zeitfenster, in dem es den Hinterbliebenen plötzlich möglich ist, über etwas lang Verschwiegenes zu sprechen.

 

Wie fassen Sie die Verantwortung des Einzelnen auf?

Die private Initiative kann kein Ersatz sein für fehlende politische Initiative. Dennoch bleibt die Verantwortung des Einzelnen bestehen, so zu handeln, wie es den eigenen Maßstäben entspricht. Diese Verantwortung darf man nicht mit der Entschuldigung, dass erst das ganze System geändert werden müsse, abgeben. Das wäre eine zu bequeme Entschuldigung. Konkret handeln und zugleich politisch handeln, das bleibt die Herausforderung.

Und die Rolle des Schriftstellers ist diese Verantwortung sichtbar zu machen?

Ja, der Schriftsteller – ebenso wie andere Künstler – kann sicher dazu beitragen, unerträgliche, unwürdige Zustände überhaupt in die Wahrnehmung zu rücken, und, anders als die Geisteswissenschaften, nicht nur zu analysieren, sondern in ihrer Unerträglichkeit nachfühlbar, erfahrbar zu machen. Erst wenn wir im anderen uns selbst erkennnen, beginnen wir, solidarisch zu handeln.

Welchen Stellenwert hat für Sie die literarische Sprache?

In der Literatur gibt es ja, ebenso wie in der Musik, Klang und Rhythmus. Man hat den „Sound“ der Worte im Kopf, während man schreibt – aber auch, während man liest. Das heißt, auch durch die Sprache selbst wird erzählt, nämlich das, was zwischen den Worten passiert. Und das ist das, worum es eigentlich geht. Inhalt – das ist nur das Skelett einer Geschichte. Aber das Fleisch, das lebendige, das sind die Stimmlagen, Töne, Haltungen, die wiederkehrenden Motive, die verschiedenen Tempi. Das alles begegnet sich in den verschiedenen Sprachschichten, wird miteinander verflochten. Dadurch gerät eine Geschichte in Bewegung, wird komplex. Ich sehe das als eine Art Chor.