Als ich neulich in die USA flog, in eine Stadt namens Portland, um dort über den allerletzten Roman Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr Freud der deutschen Autorin Christa Wolf einen Vortrag zu halten, traf ich auf den Engel.
Ich hatte vor, Stadt der Engel von Christa Wolf parallel zum Roman Schattenspiel der estnischen Autorin Viivi Luik zu lesen, um damit die Verbundenheit verschiedener Zeiten und Menschen aus unterschiedlichen Epochen zu verdeutlichen und somit aufzuzeigen, wie in der Literatur, aber eigentlich auch im Leben selbst, die unterschiedlichsten Episoden unseres Lebens mit noch bevorstehenden oder schon vergangenen Momenten verbunden sind und wie Augenblicke aufeinander treffen können, um plötzlich etwas Selbstverständliches, aber zuvor noch nicht Erkanntes, ersichtlich zu machen.
„Ein Augenzwinkern Gottes“, sagte er, der schwarze Engel, aber erst später, in der noch bevorstehenden Zukunft. In meinem Vortrag über die zwei genannten Romane wollte ich darüber erzählen, wie Viivi Luik in ihrem Buch deutlich macht, dass wir oft keine Ahnung haben, welche Menschen und Orte in unserem Leben eines Tages eine gravierende Rolle spielen werden. Sie mögen bereits schon geboren sein, deren eigenes einzigartiges Leben führen, bloß wissen wir noch nichts von ihnen, oder wann und wo sich unsere Lebenswege überhaupt kreuzen werden. Einige von uns begegnen sich für immer. Wege anderer kreuzen sich, um etwas zu erkennen, um möglicherweise vom Wunder des Lebens überfallen zu werden.
Mein Weg nach Portland führte von Stockholm nach Los Angeles – von der Stadt, in der die Pianistin und Schriftstellerin Käbi Laretei, der ich mein letztes Buch gewidmet hatte, den Großteil ihres Lebens verbracht hatte, in die Stadt der Engel, in der Christa Wolf nach dem Fall der Mauer, also zu Beginn der neunziger Jahre, Zuflucht suchte und wovon sie in ihrem Roman erzählte. Ich war nicht allzu begeistert über meine bevorstehende Reise und hatte sogar Flugangst, die ich nicht einmal mir selber gegenüber zugeben wollte. Statt dessen versicherte ich mir mit den Worten Viivi Luiks, oder so glaubte ich zumindest, dass ich ja weder wissen noch voraussehen konnte, was mich in der Zukunft, also auf der Reise, erwartet. Ohne mich auf die Reise zu wagen, konnte ich aber dem, also dem noch nicht Bekannten, nicht begegnen.
Portland empfing mich mit Wärme und Wohlwollen. Am zweiten Abend spazierte ich selbstbewusst und ohne jeglichen Hauch von Zweifel in meinem schwarzen Kleid und meiner schwarz-weißen Jacke mit der kleinen weißen Engelbrosche aus Keramik zu einem runden, halbleeren Tisch in einem riesigen Saal, der mit etlichen Tischen, an denen zahlreiche mir unbekannte Menschen saßen, gefüllt war. Neben den Professoren und anderen Teilnehmern saß an diesem Tisch auch er, nicht mehr in schwarz und Leder gekleidet wie damals, sondern im Anzug, wie es sich für einen Professor gehört.
Deshalb erkannte ich ihn auch nicht gleich wieder, denn ich hatte ja keine Ahnung, dass er auch hier sein könnte. Zumal wusste ich seinen Namen nicht, so wie er meinen ebenso wenig. Vor sieben Jahren waren wir einander unter ähnlichen Umständen auf einer riesigen Tagung der German Studies Association begegnet und hatten ein paar Tage miteinander verbracht, unsere Erlebnisse geteilt, einander vom Leben erzählt, gemeinsam die Stadt entdeckt.
„Bist du etwa in der Politikwissenschaft?“, hörte ich mich ihn plötzlich über den Tisch hinweg fragen. „Und du? In der Literatur?“, seine Antwort. Wir hatten uns erkannt, obwohl eine Ewigkeit zwischen uns und unserer damaligen Begegnung zu liegen schien.
„Du hast mir einen kleinen weißen keramischen Engel, eine Figur aus der Werkstatt deiner Mutter geschenkt. Er ist mir wichtig. Ich habe ihn in die USA mitgenommen. Ich lebe jetzt hier. Weißt du noch? Ich wusste nicht mal mehr deinen Namen, aber der Engel ist mir wichtig. Er ist bei mir.“
„Welchen Engel?“, denke ich. Konnte es sein, dass ich ihm einen Engel geschenkt hatte? Nach einer Weile glaube ich mich zu erinnern. Er kommt rüber, beugt sich zu mir und sagt: „Weißt du, den Engel würde ich nie hergeben. Das war eine sehr schöne und zärtliche Geste. Es ist unglaublich dich hier wiederzutreffen. Unglaublich! Warst du in der Zwischenzeit auf ähnlichen Tagungen?“
„Nein“, sage ich. Auch er nicht. Aber nun, nach sieben Jahren, sind wir beide hier, unter diesen 1400 Menschen. Wir setzen uns an den gleichen Tisch. Es dauerte zwar einen Moment, aber wir erkannten uns wieder. Ich ihn, ohne seine schwarzen Kleider. Er mich, in meinem schwarzen Kleid. Der Engel gab mich zu erkennen.
„Dich würde man unter hundert Leuten erkennen. Du hast dein Charisma und kannst nichts dafür“, sagt er.
Wieso hatte ich ihm damals, diesem in schwarz und Leder gekleideten jungen Mann, den weißen Engel geschenkt? Ich glaube mich zu erinnern, dass es mich Mut gekostet hatte. Was würde er wohl sagen? Wie würde er es verstehen? Würde er es einfach nur als banal empfinden?
Er sieht mich an als wisse er woran ich denke. „Ich erinnere mich nicht mehr an deine genauen Worte, aber an das Gefühl schon. So eine zarte Geste. Das kenne ich so nicht von anderen.“
Die zarte Geste als eine Handreichung in die Zukunft? Eine Mutprobe für künftige Begegnungen?
Wir sind zwar nicht gemeinsam, Hand in Hand, über die Bucht von Santa Monica geflogen, wie Christa Wolf mit ihrem schwarzen Engel in der Stadt der Engel. Wir haben uns aber ein nettes Café gesucht, uns angesehen, uns gesehen, und sind einander im Gespräch erneut begegnet. Als wären die Jahre nicht dazwischen gelegen, als hätten wir uns schon immer gekannt. Deutsche Wörter wie ‚Fremdenscham’, die es genauso im Estnischen, aber eben nicht im Englischen gibt, haben uns dabei Freude bereitet.
Wir sehen uns wieder, oder?
Bestimmt. Wenn nicht früher, dann in sieben Jahren sicher. Der Engel wird’s schon wissen.