Am 27. März 2018 waren drei Autoren – Kai Grehn (1969), Berit Glanz (1982) und Slata Roschal (1992) –, Preisträger des Literaturpreises Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen des Deutschen Frühlings in Tallinn, im Estnischen Schriftstellerhaus zu Gast, um am Abend „Texte – Spuren – Orte“ Auszüge aus ihren Werken zu lesen und über die Bedeutung der Orte und des Reisens in ihrem Leben zu reden.
Fotos: Kris Moor


Der Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern wird seit drei Jahren, seit 2016 vergeben und Kai Grehn, Berit Glanz und Slata Roschal sind die ersten drei Preisträger. Der Preis wird in Kooperation folgender Institutionen verliehen: Künstlerhaus Lukas, Literaturhaus Rostock, Literaturzentrum Vorpommern, freiraum-verlag und Literaturrat M-V e.V.

Deutscher Frühling ist ein Festival, das den kulturellen und wissenschaftlichen Ereignissen gewidmet ist, die mit deutscher Sprache und Kultur verbunden sind. Im Jahre 2019 fand das Festival bereits zum 10. Mal statt und war dem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern gewidmet. 

Der Literaturabend „Texte – Spuren – Orte“ wurde vom Goethe Institut Estlands in Kooperation mit dem Estnischen Schriftstellerverband veranstaltet. Die estnische Autorin Veronika Kivisilla sowie Aija Sakova haben estnische Übersetzungen der deutschen Texte vorgetragen.

Berit Glanz hat einen Auszug „public static Life one (){return null; }“ aus ihrem Roman „Pixeltänzer“, der im Herbst 2019 erscheint, vorgelesen.

Aija Sakova: Berit, Deine Geschichte spielt sich ab in einem modernen IT-Office.  Wir hörten nur einen kleinen Abschnitt, aber trotzdem ist es bemerkenswert, welche Bedeutung den unterschiedlichen Orten im Office zuwiesen wird. Etwas wird hinter dem Schreibtisch gemacht, Meetings woanders gehalten, geruht wird neben dem Aquarium usw. Und es ist nicht unbedeutend, wer wo sitzt, denn die besser gekleideten können nämlich in der Nähe der Tür sitzen, um einen besseren Eindruck bei den Gästen zu hinterlassen.

Welche Räume sind für Dich sympathisch und wo fühlst Du Dich wohl? Haben Räume einen Einfluss auf den Menschen?

Berit Glanz: Ich fühle mich hier heute zum Beispiel sehr wohl. Aber in meinem Textausschnitt geht es tatsächlich darum, dass die Architektur der Büroräume einen Einfluss auf den Menschen hat. Die beschriebenen Räumlichkeiten sind sehr schön, aber sie sind gleichzeitig auch dazu da, Kontrolle auf die Menschen darin auszuüben. Diese modernen Büroräume sind eben sehr zwiespältig: Auf der einen Seite sind sie sehr spaßig, modern und unterhaltsam, aber auf der anderen Seite stellen sie einen Vermischung von Privatem und Öffentlichem dar. Diese Räumlichkeiten üben so eine Art Kontrolle über den Menschen aus, weil sie die Grenze zwischen dem Privatleben und der Arbeitswelt vermischen.

 

 

Kai Grehn, Berit Glanz, Slata Roschal in Tallinn


Slata Roschal hat zwei kürzere Prosaabschnitte („Wenn ich sowas wie Heimat“, „Und ich“) und drei Gedichte („Es regnete dann regnete es sehr“, „Der Wald ist dunkel schwer und lauscht“ und „Wär es nicht komisch / Вот было бы смешно“) vorgetragen.

Aija Sakova: In deinen Texten ziehen Menschen von einem Ort an den anderen und sind nicht richtig fest an einen Ort gebunden. Dies scheint gleichzeitig ein Vorteil sowie ein Nachteil zu sein. Du selber bist in Russland, in St Petersburg geboren, aber in Deutschland aufgewachsen. Ist verwurzelt sein an einem Ort wichtig für einen Menschen, kann es überhaupt in der heutigen Welt möglich sein? 

Slata Roschal: Das ist eine große Frage, ich denke viel darüber nach und habe keine endgültige Antwort darauf gefunden. Ich denke, es ist wichtig, sich selber verorten zu können, zu wissen, an welchem Ort man wer war, und die Orte begreifen und definieren zu können, sie dadurch erst zu schaffen. 

Solche Begriffe wie Verwurzelung und Heimat sind für mich einerseits melancholisch, sehnsüchtig, sie verweisen auf etwas, was man gerne haben würde. Aber ich glaube nicht an sie. Diese Begriffe haben zerstörerisches Potential, können sehr unangenehm werden, wie Kleingärten, in denen sich auf einmal alle möglichen Tragödien abspielen.


Aija Sakova und Kai Grehn


Kai Grehn hat zwei Kurzgeschichten („So glücklich wie wir, ist kein Mensch unter der Sonne“ und „Der Fluss“) aus seinem Buch „Funken“ (Freiraum Verlag, 2017) vorgelesen. Das Buch ist als Resultat des Literaturpreises Mecklenburg-Vorpommern und den damit verbundenen Aufenthalten entstanden.

Aija Sakova: Gestern habe ich erfahren, dass das schöne rosa Papier, der Umschlag deines Buches auf das Löschpapier hinweisen soll. Dies ist auch ein Verweis auf ein Land und eine Zeit, die es so nicht mehr gibt, die nur in den in uns eingeschriebenen Erinnerungen fortleben.

Kai Grehn: Es ist ohne Belang, dass dieses Land, dieser Staat nicht mehr existiert. Einschneidend ist für mich vielmehr, dass die Landschaft meiner Kindheit nicht mehr existiert bzw. nur noch in meiner Erinnerung. Das Umschlagpapier ist vor allem ein Verweis auf die Rorschach Test Zeichnungen im Buch und den dazugehörigen Rorschach Test Text. Ich habe das als Kind sehr gerne getan, dass ich Löschpapier zusammengefaltet und Tinte in die Mitte getropft habe. Wenn man das Blatt zusammendrückt und wieder auseinanderfaltet, entsteht ein gespiegeltes Tintenklecksbild, das dann mit Hilfe der Fantasie und Imagination gedeutet werden will.

Vielleicht liegt hier auch eine Antwort auf Deine Frage. Ähnlich wie bei einem Rorschach-Bild sind die Landschaften und Orte meiner Kindheit Imaginationen meiner Fantasie und Erinnerung.

Hans, die Hauptfigur aus FUNKEN, unternimmt zweierlei Reisen in dem Buch: Reisen, die tatsächlich unternommen wurden, und Reisen, die im Kopf stattfinden als Tag- und Nachtträume. Für mich ist es ein wichtiges Thema in Bezug auf Orte. Denn ich weiß nicht, ob es sich mit Gewissheit sagen lässt, dass ein Traum oder eine Traumreise weniger real ist als die Besteigung eines Berges.

Letztendlich definiert sich alles über Erinnerung und die Grenzen zwischen Realität und Imagination sind hier fliesend. Ich mag beides: im Kosmos des Kopfes unterwegs zu sein, ebenso wie einen Berg zu besteigen. Das sind zwei Seiten einer Medaille, die für mich beide ihre Berechtigung haben.


Aija Sakova, Kai Grehn, Berit Glanz, Slata Roschal, Veronika Kivisilla


Wir haben gestern über das Reisen durch Deutschland geredet und wie sich nicht nur die Landschaft, sondern auch die Menschen verändern, wenn man quer durch Deutschland reist. Welche Bedeutung hat Nord-Deutschland oder Mecklenburg-Vorpommern für Euch?

Kai Grehn: Ich bin in Mecklenburg-Vorpommern, in Grevesmühlen geboren. Meine ganze Familie, mein Vater, meine Mutter, meine Schwester, selbst meine Katze sind in Grevesmühlen zur Welt gekommen. Kurz nach meiner Geburt sind meine Eltern nach Berlin gezogen, aber wir sind an den Wochenenden und in den Ferien beständig „nach Hause“ gefahren zu meinen Großeltern, in das Dorf an der Ostsee, in dem mein Vater aufgewachsen ist.

Mecklenburg-Vorpommern ist daher für mich die Landschaft meiner Vorfahren, meiner Ahnen.

Mein Vater stammt aus einer Familie mit vielen Kindern, was bedeutete, dass in dem Haus meiner Großeltern väterlicherseits immer Besuch anwesend war, die Geschwister meines Vaters mit ihren Kindern, meine Cousinen und Cousins, die alle versorgt und umhegt werden wollten. Dies wiederum bedeutete, dass es eigentlich nie wirklich die Zeit und Ruhe gab, mit meinen Großeltern ins Gespräch zu kommen.

In dem Buch FUNKEN habe ich u.a. auch versucht, mit meinen Großeltern einen imaginären Dialog zu führen, der in der sogenannten Wirklichkeit so nie stattgefunden hat, um ihnen die Fragen zu stellen, die ich als Kind nicht gestellt habe oder nicht stellen konnte.

Interessant für mich war dabei zu beobachten, wie durch den Literaturpreis Mecklenburg-Vorpommern und dem dazugehörigen Aufenthalt im Künstlerhaus Lukas diese Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit und den Landschaften meiner Herkunft noch verstärkt und intensiver wurde.  

Berit Glanz: Ich komme mir ganz schuldig vor, da ich keine lange Beziehung zu Mecklenburg-Vorpommern habe. Ich bin nach Greifswald wegen der Arbeit gezogen. Vorher habe ich in Reykjavik gewohnt, davor in München und in Stockholm, also überall, wo es für mich Arbeit gab. So habe ich auch keine großen Gefühle oder keine Nostalgie gegenüber diesem Bundesland. Ich lebe da gerne und es ist schön dort zu sein. Sicherlich werde ich jedoch nicht ewig Greifswald bleiben.

Wo ich lebe und wo ich sehr starke Heimat-Gefühle habe, ist das Internet. Ich glaube, für mich sind Heimat-Gefühle nicht mehr an reale Orte, sondern an Orte im Internet zu binden.

Aber Mecklenburg-Vorpommern ist auf jeden Fall sehr schön und es lohnt sich, dieses Land zu besuchen. 



Slata Roschal: Ich bin in Schwerin aufgewachsen, habe in Greifswald studiert und in Mecklenburg-Vorpommern den Großteil meines Lebens bisher verbracht, bin vor einem Jahr nach München umgezogen. Es ist für mich ein sehr aufgeladener Ort. Letztes Jahr, als ich zur Preisverleihung nach Schwerin gefahren bin, fühlte ich mich wie ein alter Greis, der das Land seiner Vorfahren betritt.

In Schwerin bin ich im Zug an einer Station vorbeigefahren, in deren Nähe ein Wohnheim stand, in dem meine Familie, ich als Kind nach unserem Umzug nach Deutschland untergebracht waren. Auf dem Bahnhof habe ich dann gleich zwei Bekannte aus ganz verschiedenen Kontexten gesehen und habe ich mich im Hotel versteckt und die Stadt von dort, von oben, aus dem Fenster des Hotelzimmers beobachtet.

Ehrlich gesagt war ich froh, aus Mecklenburg wieder weg zu kommen. Wenn man zu lange an einem Ort ist, dann wechseln die Machtverhältnisse. Es wird immer schwieriger, diesen Ort zu verlassen, immer unvorstellbarer, den Koffer zu packen.  


Aija Sakova, Kai Grehn, Berit Glanz, Slata Roschal, Veronika Kivisilla


Welche Bedeutung hat das Reisen? Was passiert mit dem Menschen auf Reisen?

Kai Grehn: Das entscheidende, scheint mir, ist das Unterwegs-Sein, das Auf-dem-Sprung-Sein. Die Orte, die man bereist, sind Sprungbretter, um zwischen Schlaf und Schlaf nicht einzuschlafen, in Bewegung zu bleiben.

Reisen bedeutet dabei für mich aber nicht nur, wie bereits gesagt, eine Reise nach Armenien oder Tallinn zu unternehmen, sondern reisen bedeutet auch, an dem Ort, an dem man lebt, in die Straßenbahn zu steigen, sich an einem Fluss oder unter einen Baum zu setzen.

Es gibt ein altes Sprichwort, einen Leitspruch der nordischen Seefahrer, der mich fasziniert und mir wie ein Koan auch erscheint: „Es ist notwendig zu reisen. Es ist nicht notwendig zu leben.“

 

Berit Glanz: Ich würde hier einen Link zu Estland und zur Tartuer Schule der Semiotik machen. In der Kulturtheorie von Juri Lotman geht es darum, dass ein Zeichensystem dann, wenn es sich nicht mehr verändern kann, wenn es keine neuen Codes hinzunimmt, stirbt. Ich glaube, dass das Reisen eine herausragende Möglichkeit ist, sich an dem eigenen Codes zu reiben und eigene Systeme zu hinterfragen und zu aktualisieren. 


Slata Roschal: O ja, die Lotmansche Raumsemantik finde ich sehr schön. Bei ihr geht es ja um Überschreitungen von Grenzen, darum, welche Figur sich als beweglich herausstellt, für wen welche Grenzen unüberwindbare Hindernisse darstellen. Und beim Reisen genauso, welche Grenzen erlaube ich es mir zu überschreiten, wie komme ich von einem Teilraum in den anderen. Reisen ist eine Art „reset“, man wird wieder auf den Null-Punkt zurückgeschleudert, wird gezwungen, die eigene Existenz wieder zu hinterfragen.

Ich habe zum Beispiel so einen Tick, dass ich meinen Koffer immer umständlich packe, zu viele Sachen mitnehmen will. Ich habe dabei das Gefühl, dass diese Sachen das Einzige sind, was mir bleibt von dem, was ich bin. Ich stelle mir manchmal vor, ein Zugunglück, viele Leichen, und dann würden die Rettungskräfte die Unterschiede zwischen den Reisenden nur anhand von Kleidung und der Marke des Koffers feststellen können, wenn davon etwas übrigbleibt. Deshalb werden bei Zugfahrten diese Details plötzlich so wichtig, was steht auf dem Koffer, sieht er edel aus, steht er in der ersten oder zweiten Klasse. Und Zugunfälle lösen dann kurz einen Zustand voller Demokratie aus.