Klaus Modick war dieses Jahr Gast des Literaturfestivals Prima Vista in Tartu und las dort aus seinem Roman „Keyserlings Geheimnis“ (2018), der eine Art literarisches Portrait von dem Schriftsteller Eduard von Keyserling ist. 
Unser Gespräch mit Klaus Modick ging dem Festival voraus. Die estnische Version des Interviews erschien in der Tageszeitung Postimees (1.05.2025).


Eduard von Keyserling (1855–1918) ist auf dem heutigen Gebiet von Lettland, am Schloss Tels-Paddern (Tāšu-Padures) aufgewachsen und studierte Rechtswissenschaften in Tartu, im damaligen Dorpat. Wie sind Sie zu Eduard von Keyserling gekommen?

Auf die Idee, über Keyserling zu schreiben, bin ich durch die Lektüre seiner Romane und Erzählungen gekommen, die ich erst spät für mich entdeckt habe, aber dann hellauf begeistert war und immer noch bin. Deshalb habe ich mich zunehmend für den Autor interessiert und festgestellt, dass es über sein Leben nur bruchstückhafte Informationen gibt, kaum unmittelbar autobiografische Äußerungen, von einer Biografie ganz zu schweigen. Das ist erstaunlich für einen Autor von Keyserlings Format, der zu seiner Zeit durchaus erfolgreich war und bis heute von Kennern für seinen eleganten, ironischen Stil hoch geschätzt wird. Zwei Details in Keyserlings Leben, die offensichtlich miteinander in Verbindung stehen, haben mich dann auf die Idee meines Romans gebracht, der in gewisser Weise auch eine fiktionalisierte literarhistorische Recherche ist. Zum einen hatte Keyserling testamentarisch verfügt, dass sein literarischer Nachlass vernichtet werden müsse, was leider auch geschah; zum anderen rankten sich allerlei Gerüchte um einen Skandal, in den Keyserling während seiner Studienzeit in Dorpat (Tartu) verwickelt war und der ihn in Kreisen des baltischen Adels zu einer persona non grata werden ließ. Diese Leerstelle in seiner Vita, Keyserlings Geheimnis also, ist nun aber zweifellos die Keimzelle seiner Autorschaft gewesen und hat auch die Vernichtung seines Nachlasses nach sich gezogen.

Von Eduard von Keyserling sind während seiner Lebenszeit zehn Romane und etliche Erzählungen erscheinen. Die meisten von denen wiederspiegeln die untergehende Welt des baltischen Adels. Trotz der melancholischen Stimmung tragen sie eine Leichtigkeit. Seine Romane sind als impressionistische Meisterwerke der Literatur bezeichnet worden. Auf Estnisch sind von ihm ein Erzählungsband („Helged päevad“, erschienen 1912) und drei Romane – „Dumala“ („Pastori armastus“, übersetzt bereits 1931), „Wellen“ („Lained“, erschienen 1996) und „Abendliche Häuser“ („Õhtused majad“, erschienen 1989) – vorhanden. 

Was ist es an Keyserlings Schaffen, was Sie insbesondere begeistert hat?

Ich bewundere die stilistische Eleganz, den subtilen Humor, die durchgängig ironische Haltung, deren Spannweite von milde bis ätzend reicht. Dazu kommt ein präzises Verständnis psychologischer Vorgänge, insbesondere in der Evozierung erotischer Stimmungen, Spannungen, auch Verdrängungen. Und geradezu unübertroffen ist Keyserling als Schilderer von Landschaft und Natur. Während er die gesellschaftlichen Konventionen seiner Herkunftswelt und die psychischen Zustände ihrer Menschen fast ausnahmslos ironisch sieht, behandelt er die Landschaft mit einer unzweideutigen, liebevollen Innigkeit. Der Verfall der anachronistischen, verkalkten und verstaubten Welt des baltischen Adels steht im Kontrast zur Natur als einer quasi krisensicheren Wirklichkeit. Mögen die Tage von Keyserlings Leuten gezählt sein, das Land erscheint unwandelbar. Und doch - selbst dies letzte Refugium der Schönheit schwindet. Zu den traurigsten, resignativsten Momenten in Keyserlings Werk zählt das wiederkehrende Motiv des Verkaufs von Wald durch den verschuldeten Landadel. Die Kahlschläge bewiesen mit unübersehbarer Brutalität, dass Wälder und Landwirtschaft keine Lebensformen mehr boten und die Tage des kurländischen Adels gezählt waren. Die Zukunft gehörte den Industrien und Fabriken, den Stahl- und Kohlebaronen, deren Hochöfen mit baltischen Wäldern befeuert wurden.

Das Entscheidende, sozusagen der Witz von Keyserlings Stil, besteht nun aber darin, dass und wie er seine Stoffe entmaterialisiert. Seine Darstellungen saugen das Stoffliche gewissermaßen auf. So ist Keyserlings Werk ein schlagendes Beispiel für die altbekannte, aber häufig ignorierte Tatsache, dass ästhetische Relevanz nicht vom Gegenstand abhängt, dass es in der Kunst nicht um das Was, sondern um das Wie der Darstellung geht. So wenig die Seerosen große Kunst waren, sondern die Art, in der Monet sie malte, so wenig hatte die baltische Adelswelt literarische Qualität, sondern die ironische Weise, in der Keyserling sie beschrieb und in der Beschreibung zugleich als hinfällige, verschwindende Klasse dekonstruierte. Insofern war Keyserling in der Tat ein Impressionist.

In Ihrem Roman „Keyserlings Geheimnis“ beziehen Sie ich auf ein Gemälde von Lovis Corinth über Eduard von Keyserling (1901). Gleichzeitig war dieser Roman nicht Ihr erster Künstlerroman. Sie haben im „Konzert ohne Dichter“ (2015) ebenso über die Beziehung des Künstlers Heinrich Vogeler zu dem Dichter Rainer Maria Rilke geschrieben. Dieses Buch war ausgelöst von Vogelers Gemälde „Das Konzert oder Sommerabend auf dem Barkenhoff“ (1905). Beide Künstlerromane spielen um den gleichen Zeitraum. Interessiert Sie der Anfang des 20. Jahrhunderts und das Künstlerleben dieser Zeit besonders?

Einen Künstlerroman habe ich bereits mit „Sunset“ (2010) geschrieben. Es geht da um die ungewöhnliche Freundschaft zwischen Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht im kalifornischen Exil in den 1940er Jahren. Dass „Keyserlings Geheimnis“ und „Konzert ohne Dichter“ beide um die Jahrhundertwende spielen, ist aber eher zufällig. Allerdings war das Fin de Siècle, die Jahre um 1900 also, eine Epoche der Widersprüche und des Umbruchs in vielen gesellschaftlichen Bereichen, auch und besonders in Kunst, Musik und Literatur. Die Nachwirkungen sind immer noch virulent, und Fragen nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik, Leben und Werk, stellen sich damals wie heute.

Was meinen Sie mit dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik, Leben und Werk? Auf welche Weise sind diese Fragen heute für einen schaffenden Menschen aktuell?

Nicht jeder, der gute Bücher schreibt, gute Bilder malt oder gute Musik komponiert, ist zugleich auch ein „guter Mensch“. In der Kulturgeschichte gibt es zahlreiche Beispiele für die Kluft zwischen künstlerischer Höchstleistung (Ästhetik/Werk) und menschlichem Verhalten im Alltag, besonders im Umgang mit Menschen (Leben/Ethik). Rilke ist ein besonders krasses Beispiel: Einerseits genialer Lyriker, andererseits jemand, der alle Menschen, insbesondere Frauen, zu Sklaven seines Werks machte. Ähnlich sieht es bei Brecht aus. Bei Keyserling sehe ich diese Kluft fast gar nicht.


War Lovis Corinths Gemälde über Keyserling auch einer der Auslöser für den Roman? Was ist es an diesem Gemälde, das einen in den Bann schlägt?

Aus der Entstehungsgeschichte dieses Bildes ergab sich eine sinnvolle und aufschlussreiche Rahmenhandlung für die eigentliche Geschichte. Corinths Porträt, entstanden 1901 bei einem gemeinsamen Sommerurlaub am Starnberger See, zeigt Keyserling als einen wenig attraktiven, nahezu hässlichen, von der Syphilis gezeichneten Mann, der dennoch eine lässige Eleganz ausstrahlt. Über das fertige Bild hat er folgende Bemerkung gemacht: „Es mag ja gut gemalt sein. So aussehen möchte ich aber lieber nicht.“ Und aus dieser selbstironischen, hintergründigen Reaktion spricht jenes Bewusstsein der Moderne, das Rimbaud auf die berühmte Formel „Ich ist ein anderer“ gebracht hat.  

Sie interessieren sich nicht nur für historische Künstlerfiguren (Schriftsteller, Musiker, Künstler) und deren Leben, sondern auch für die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Disziplinen. Stimmt es, dass die Schnittstelle von Kunst und Literatur, Musik und Literatur für Sie aufregend ist?

Ein Bild, heißt es sprichwörtlich, sagt mehr als tausend Worte. Warum ist das so? Zwar erzählen auch Bilder Geschichten, aber sie tun das im Medium der Gleichzeitigkeit, konzentrieren ein Ereignis oder ein Geschehen auf einen einzelnen Moment. Das hat mich, der nicht malen kann, immer fasziniert und auch ein bisschen eifersüchtig gemacht, und darum habe ich mich in meinen Romanen immer wieder an Bildern orientiert und abgearbeitet. „Das Grau der Karolinen“(1986) erzählt beispielsweise die Geschichte eines Gemäldes als Geschichte seiner Rezeption, und „Vierundzwanzig Türen“(2000) wird durch die Bilder eines künstlerischen Adventskalenders strukturiert und erzählt von einem Kunstraub. Erzählung und Roman leben jedenfalls aus dem Nacheinander, aus dem geduldigen Entfalten, dem Schritt-für-Schritt-Aufrollen eines Zusammenhangs, und das Erzählen verlangt Zeit und trägt die Zeit in sich, entsteht es doch in der Distanz zwischen einem Ereignis und seinem Echo in der Literatur. Die bildende Kunst evoziert jedoch den Augenblick. Darin sind Bilder Gedichten nahe, vielleicht näher als dem Roman. Und vielleicht hatte darum der aus Vogelers Bild getilgte Dichter Rilke ein so tiefes Verständnis von Bildern.

Seit 1984 arbeiten Sie als freier Schriftsteller. Von 1986 bis 1992 schrieben Sie monatliche Kolumnen für Die Zeit, von 1997 bis 2002 für Die Tageszeitung. Welche Bedeutung hat das journalistische Schreiben in Ihrem Leben? Was haben Sie von der Literaturkritik und vom Feuilleton-Schreiben gelernt, wenn man sich so ausdrücken und so fragen kann?

Vielleicht habe ich beim Schreiben von Literaturkritiken gelernt, den Kern eines literarischen Werks zu erfassen, in der gebotenen Kürze auf den Begriff zu bringen und auszuloten, ob und wie der Inhalt eines Werks mit seiner Form und seinem Stil korrespondiert. In den ersten Jahren meiner Autorschaft war die Literaturkritik auch eine wichtige finanzielle Einnahmequelle für mich. Aber nun schreibe ich seit geraumer Zeit keine Kritiken mehr, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen. Das ständige Umschalten der Konzentration von einem fremden Werk aufs nächste lenkt zu sehr von der eigenen Arbeit ab, und ich beurteile die Arbeit lebender Kollegen nicht gern, jedenfalls nicht öffentlich.


Ihr Schreiben ist in der Kritik als eine gute Mixtur von Leichtigkeit und Tiefe beschrieben worden. Sie bringen die literarischen Zitate ihrer Porträtierten mit scheinbarer Leichtigkeit in Ihr Werk. Wie fühlt es sich an?

Tja, wie fühlt es sich an? Müsste diese Frage nicht von meinen Lesern beantwortet werden? Ich mache immer wieder und immer noch die Erfahrung, dass es nicht leicht ist, Leichtigkeit, die nicht seicht, nicht trivial ist, literarisch herzustellen. Und das, was die von mir Porträtierten sagen, haben sie schließlich selbst gesagt. Oder vielleicht doch nicht? Habe ich es womöglich erfunden? Da vermischen sich Dichtung und Wahrheit. Und das ist auch gut so.

Sie genießen das Weben eines dichten, doch leichten literarischen Gewebes, Sie bringen Zitate ihrer Porträtierten (aus Ihren Werken) in Ihr eigenes Werk. Wie unterschiedlich ist es von der Arbeit eines Literaturwissenschaftlers?  

Der Literaturwissenschaftler muss sich an die Fakten halten. Der Schriftsteller genießt die Freiheit der Fiktion (was aber durchaus auch Recherche und Faktenkenntnis als Basis benötigt).

„Keyserlings Geheimnis“ baut auf das Unbekannte in seiner Lebensgeschichte. Das Unbekannte ist die Quelle der Schöpfung. Schreiben Sie selber ebenso deswegen, um etwas Unbekanntes herauszufinden?

Ja, durchaus, aber bei Keyserling entspringt die Quelle einem tatsächlichen Ereignis, das er geheim hielt, weil es ihm peinlich war. Wenn mein Schreibprozess gut läuft, stelle ich immer wieder fest, dass ich etwas weiß, von dem ich bislang gar nicht wusste, dass ich es überhaupt wusste. Da kommt also etwas Unbekanntes, vielleicht auch Unbewusstes zutage, und das sind Quelle und zugleich Ergebnis der Schöpfung.

Eduard von Keyserling ist aus Kurland, dem heutigen Lettland, und er hat in Tartu studiert. Nun kommen Sie selber nach Tartu. Wie fühlt das sich an?

Ich war noch nie im Baltikum, freue mich sehr auf die Reise und bin gespannt, ob meine Recherchen und Vorstellungen noch ein wenig der Realität entsprechen. Der Roman spielt ja in den Jahren von etwa 1870 bis 1901, als Kurland und Livland noch zaristische Provinzen waren. Möge diesen Ländern eine erneute russische Herrschaft erspart bleiben!