Interview an Arno Kleinebeckel für Telepolis (24.03.2022)
Die estnische Autorin Aija Sakova über nationale Identität, Kriegsrhetorik und die Gespenster der Vergangenheit


Aija Sakova ist estnische Kulturwissenschaftlerin und Autorin. Sie ist Mitglied des estnischen Schriftstellerverbandes, Vorstandsvorsitzende der Ene Mihkelson-Gesellschaft und Mitglied der Internationalen Christa-Wolf-Gesellschaft.

Ihre Dissertation zur Poetik des Erinnerns und der moralischen Zeugenschaft erschien 2016 auf Deutsch. Zahlreiche Veröffentlichungen und Beiträge in der Muttersprache. Sakova moderiert Gespräche mit Autoren und Künstlern auf Estnisch, Deutsch, Russisch und Englisch und führt einen Blog in vier Sprachen. Zurzeit arbeitet sie an der Universität Tallinn in der Wissenschaftsadministration.

Frau Sakova, Estland war 700 Jahre Kolonialreich der Deutschen, der Schweden, der Dänen und zuletzt der Russen. Ihre Arbeit als Wissenschaftlerin mit russisch-estnischen Wurzeln dreht sich immer wieder um die Frage der nationalen Identität. Arbeiten Sie da auch ein nationales Trauma auf?

Aija Sakova: Ich selber bin zweisprachig. Meine Mutter ist Estin, mein Vater Russe, eigentlich sogar ein Russland-Russe. Ich bin aber Estnisch sozialisiert worden, rede und verstehe auch Russisch. Durch die Diskussionen mit meinem eigenen Vater habe ich das Dilemma der nationalen Identität hautnah erlebt, es gab Konflikte, in die wir offen gerieten. Gerade ist unser Dialog fast unmöglich geworden.

Die Sprache ist Heimat, schrieben Sie 2018 in einem Essay. Ihr Heimatland ist ein Land mit einem komplizierten Sprachgemisch, man spricht Estnisch, Russisch, aber aus langer Tradition auch Deutsch. Sie selber haben u.a. auch in Wien und Berlin studiert, kennen also auch den Westen aus eigener Erfahrung. Zerreißt ausgerechnet die Sprache derzeit das Land?

Aija Sakova: Als die estnische Republik 1918 gegründet wurde, waren die Rechte der Minderheiten auf deren eigene Kulturen dabei wichtig. Wir können und sollten aber nicht vergessen, dass wir in Ost-Europa sehr schmerzliche Erfahrungen mit Totalitarismus haben. Zuletzt nach dem Sieg der Roten Armee über die Wehrmacht. Das wurde als Befreiung propagiert.

Für Estland war es der Beginn von 50 Jahren erneuter Okkupation, Russifizierung und massenhafter Deportation. Für viele ergab sich das Problem des "Zweifachen Beheimatetseins". Das schlägt sich in der Sprache nieder.

Mein Ansatz war immer, nicht zu werten oder zu nivellieren, sondern zu erinnern. Darin liegt der Schlüssel zum Miteinander; bei Christa Wolf etwa meint es das Hinuntersteigen in den Schacht der Erinnerung. Das kann anstrengend sein. Die estnische Autorin Ene Mihkelson sagt, dass die Vergangenheitsaufarbeitung der inneren Freiheit wegen nötig ist, sonst werden wir von der Vergangenheit unbewusst bestimmt und beeinflusst.

Ein Viertel der Einwohner Estlands sind Russen. In einem Buchbeitrag von 2017 erwähnen sie Igor Kotjuh, einen Kollegen aus dem Estnischen Schriftstellerverband. Kotjuh schreibt wie Sie in mehreren Sprachen. Sie erwähnen ihn mit einem Gedicht, das ich hier kurz zitieren möchte. Es heißt: 100 Zeilen über die Liebe zur Heimat:

"was interessant ist / meine heimat ist estland / die heimat meiner sprache russland / ich wohne hier / sie wohnt dort / ich lese estnische bücher / weil deren mentalität mir nahe liegt / ich lese russische bücher / um meine sprache zu entfalten"

Wie betrifft der Krieg in der Ukraine das "Doppelt-Beheimatet-Sein"?

Aija Sakova: Ich bin mit einigen ukrainischen Flüchtlingen in Kontakt gekommen und habe gespürt, wie unwohl sie sich fühlten, wenn sie auf Russisch zu mir sprachen. Man muss dazu sagen, fast alle Bewohner der Ukraine beherrschen das Russische zumindest grundlegend. Man spricht derzeit lieber Ukrainisch, einfach, um nicht Russisch zu benutzen. Und das kann ich sehr wohl verstehen und nachvollziehen. Hier tun sich gerade Gräben auf, die auch die Vorstellung von Sprache als Heimat in Mitleidenschaft ziehen.

Nationale Identität war den baltischen Völkern weder von der politischen (deutschen, schwedischen, russischen) noch von der ökonomischen Oberschicht zugestanden worden. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts suchte das Petersburger Imperium nach einer nationalen Idee; damals kam die Vorstellung auf, die Ostseeküste gehöre "natürlicherweise" zum russischen Reichsgebiet. Wecken Putins Ambitionen ungute Erinnerungen?

Aija Sakova: Hier ist es jedem klar, dass es eine Invasion, ein Krieg ist. Wir haben die Taktiken der russischen/sowjetischen "Befreiung" gesehen. Im März 1944 haben die Sowjets Tallinn bombardiert, es hieß "Befreiung". Auch aus der näheren Vergangenheit kennen wir diese Rhetorik. Für uns hier in Estland ist es so, dass die Ukraine auch an unserer Stelle im Krieg ist. In gewisser Weise ist sie sogar für uns im Krieg.

Elmar Römpczyk, Sozialwissenschaftler und Germanist, war von 2004 bis 2008 Koordinator der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung für die baltischen Staaten mit Sitz in Riga. Er schrieb einmal: "In Riga wie auch in Tallinn hatte ich nach 2004 immer den Ausruf im Ohr: Wir sind jetzt den Klauen des russischen Bären entronnen, stehen dafür vor den Hörnern des Europa-Stiers – aber wo bleiben wir selber (…)?".

Aija Sakova: Ja, Sie sprechen das komplizierte Thema der Identität noch einmal an. Der Krieg in der Ukraine ist für uns ein Krieg in unmittelbarer Nachbarschaft. Er weckt nicht nur ungute Erinnerungen, er weckt geradezu die Gespenster der Vergangenheit und bedeutet für viele hier in der Region ein Wachrufen traumatischer Erfahrungen.

Das betrifft in besonderer Weise auch die noch lange nicht aufgearbeiteten Spuren des Totalitarismus, die sich in das Alltagsleben und in Verhaltensmuster eingeschrieben haben. Hier liegt einer der Gründe, warum die Geschichten der ehemaligen Ostblock-Länder viel stärker in ganz Europa bewusst sein sollten.

Sehen Sie da auch eine besondere Verantwortung?

Aija Sakova: Kurzgefasst: Es gab und gibt Dissonanzen zwischen der west- und osteuropäischen Erinnerungskultur. Unsere, also die Aufgabe der Osteuropäer, ist es, immer wieder über diese Unterschiede zu reden und die Menschen in den westlichen Ländern, die mehr als 70 Jahre in einem friedlichen und demokratischen Europa gelebt haben, an die Schattenseiten des europäischen Projekts zu erinnern.

Die Erinnerungskultur ist auch ein Beitrag gegen die Vereinnahmung und Heroisierung von Geschichte. Auch im Sinne einer moralischen Zeugenschaft, wie ich das als Anliegen im interkulturellen Dialog einmal beschrieben habe.