Dieses Essay wurde am 26. September 2018 am Kadrioru Saksa Gymnasium am Symposium „Sprachenreichtum in Estland und Europa. Mit Deutsch mehrsprachiger werden" als Geschenk an meine ehemalige Schule und an die Schule meiner Söhne zum Anlass des Sprachentages vorgetragen.
Die Sprache ist meine Heimstatt, mein Zuhause; die estnische, die deutsche, die Sprache generell. Ich liebe die Sprache und ich lebe durch die Sprache. Literatur und die Beschäftigung mit der Literatur ist meine Berufung und meine Leidenschaft. Das gelebte Leben und die erfahrenen Freuden und Leiden sind für mich fast lebendiger oder intensiver, wenn ich sie für mich versprachlicht, also in der Sprache ausgedrückt und mithilfe der Sprache durchdacht habe. Das heißt nicht, dass ich Bücher oder das Schreiben mehr als das Leben selbst schätze. So ist es nicht. Umgekehrt, ich liebe das Leben, nur bin ich ein Wort-Mensch. Mir sind die Worte gegeben, als Mittel für die Erkundung der Welt. Und diese Tatsache muss ich ernst nehmen.
Nur war ich mir dessen nicht immer bewusst, es war ein langer Weg bis dahin, bis zu dieser Erkenntnis.
Heute arbeite ich als Literaturwissenschaftlerin, früher habe ich auch als Journalistin, Leiterin der Abteilungen für Altdrucke an der Akademischen Bibliothek der Universität Tallinn, aber auch als Lehrerin für wissenschaftliches Schreiben an dem Kadrioru Saksa Gymnasium gearbeitet. Heute bin ich im Estnischen Kulturhistorischen Archiv des Estnischen Literaturmuseums in Tartu angestellt und beschäftige mich vor allem mit den Fragen des Erinnerns und der Ethik des Gedächtnisses sowie mit der Frage der Aufarbeitung des Schmerzes vergleichend in der deutschen und estnischen Literatur. Aus der deutschsprachigen Literatur haben gehört und gehören immer noch Ingeborg Bachmann, Christa Wolf und Walter Benjamin zu meinen Lebensgefährten, natürlich habe auch über die Werke vieler anderen Autoren nachgedacht und geschrieben. Aus der estnischen Literatur sind meine Begleiter im Leben vor allem Ene Mihkelson und Viivi Luik, aber in den letzten Jahren auch Maarja Kangro, Aare Pilv, Jaak Jõerüüt und Käbi Laretei, die weltberühmte schwedisch-estnische Pianistin, die später Bücher auf Schwedisch angefangen hat zu schreiben. Seit diesem Frühling bin auch Vorstandsvorsitzende der Ene Mihkelson Gesellschaft, die wir mit Marju Lauristin, der Verwalterin des Erbes von Ene Mihkelson, und vielen anderen Kulturschaffenden gegründet haben. In Deutschland gehöre ich auch der Internationalen Christa Wolf Gesellschaft an.
Also, ich beschäftige mich mit den Fragen des Erinnerns und damit, wie Literatur dazu beitragen kann, dass das Vergangene, darunter die Traumata des Vergangenheit durchdacht, verarbeitet und somit auch hinter sich gelassen werden können.
In der neuesten Zeit habe ich angefangen, mich neben der deutschen und estnischen Literatur auch in die bulgarische Literatur einzuarbeiten. Wie ist es möglich, könnte man sich fragen? Wie viele Sprachen spreche ich eigentlich?
Nicht viele.
Estnisch ist meine Muttersprache,
Russisch die zweite Sprache von Zuhause, die Sprache meines Vaters also;
Deutsch meine Sprache der Liebe, vieler Freundschaften und die Sprache der Zuflucht und Vertiefung, auch die Sprache meiner Ausbildung – es ist ja auch kein Geheimnis, dass das Deutsche und die deutsche Kultur und Literatur viel mehr Schichten besitzt als das Estnische…
Englisch, die üblich nötige, um in der heutigen Welt überhaupt existieren zu können;
Bulgarisch die Vatersprache meines Sohnes und einiger meiner guten Freunde. Einige andere Sprachen kann ich bis zu einem gewissen Grad verstehen. Es ist ja auch so, wenn man bereits zwei Sprachen aus einer Sprachgruppe beherrscht, dann kann auch einfacher die anderen in dieser Sprachgruppe entziffern. Englisch und Deutsch helfen z.B. beim Schwedischen, Russisch und Bulgarisch beim Polnischen.
Sprachen sind ein Reichtum und öffnen Welten. Das habe ich auch gestern den Schülern in den Zurück-zur-Schule Stunden gesagt. Jede Sprache schenkt Dir eine Welt. Und das ist nicht nur so gesagt.
Wenn es nach mir ginge, dann würde ich in Estland die Regel einführen – sprachenpolitisch also –, dass man an keiner der Schulen, oder nur an ganz wenigen, Englisch als erste Fremdsprache unterrichtet. Englisch muss man können. Das ist klar. Und Englisch muss man gut können, nicht nur dürftig. Aber man müsste schwierigere Sprachen, wie das Deutsche oder Russische zuerst erlernen oder zumindest parallel mit dem Englischen. Dann würde man insgesamt gewinnen und mehr Sprachen erlernen, denn es ist viel einfacher die etwas leichtere Sprache, die wir auch sowieso sehr viel um uns und fast täglich hören, nach der etwas Schwierigeren zu erlernen, als umgekehrt. Ganz einfach und logisch, meines Erachtens. Wenn man Englisch als zweite Fremdsprache lernen würde, würden die Menschen generell belehrter, erfahrener und intelligenter sein, denn man würde eben mehr Sprachen können.
Und jede Sprache ist eine neue Welt.
Wenn dies unmöglich und unfair erscheint, könnte man sich fragen, wie war es denn Angang des 20. Jahrhunderts selbstverständlich, dass in Estland drei Sprachen – Estnisch, Deutsch, Russisch – verstanden und geredet wurden und es uns heute unmöglich erscheint, mindestens drei Sprachen zu beherrschen. Die Welt sollte ja durch die vielen technischen Mittel einfacher geworden sein, wir müssten eigentlich viel mehr Zeit übrig haben. Aber die Welt und das Leben ist durch die vielen technischen und medialen Möglichkeiten auch schneller und hektischer geworden.
Aber genau hier liegt meines Erachtens der Moment der kritischen Überlegung. Denn – und davon bin ich fest überzeugt – die Art, wie wir unser Leben leben, ist unsere eigene Entscheidung. Es unterliegt unseren eigenen Entscheidungen, das Tempo unseres Lebens zu bestimmen, die nötigen Entscheidungen zu treffen, die dazu beitragen können, das Tempo unseres Lebens zu verlangsamen.
Denn, wohin die Eile? Wohin eigentlich?
Könne man denn nicht so leben, dass man jeden Tag sich angekommen fühlt. In seinem eigenen, einmaligen und einzigartigen Leben. Sich angekommen zu fühlen. Denken Sie mal kurz darüber nach, wäre das nicht etwa wünschenswert.
Ich bin einverstanden, es ist eine Kunst, sich in der heutigen Welt zu verlangsamen. Es lohnt sich aber, sich die Mühe zu geben und es zu versuchen. Trotz allem. Denn das langsamere Leben ist intensiver, tiefer. Also, mehr wert.
Für mich sind z.B. die Sprachen und das Lernen der Sprachen eine Möglichkeit mich zu verlangsamen. Das Lernen einer Sprache verlangt Geduld, Aufmerksamkeit, Gedächtnisübung, es verlangt Mühe und Arbeit und man kann nicht mit großen Schritten sich voranbewegen. Nur langsam und ein Schritt nach dem Anderen. Und man kann nicht die späteren Schritte zuerst machen, man muss Wörter lernen, bevor man Sätze bilden kann, man muss Grammatik lernen, bevor man Sätze bilden kann. Also, kurz gesagt, man kann nicht das vorherig nötige, das Fundament, die Basis auslassen und später erstaunt sein, wieso die Sachen schief laufen.
So wie es leider oft im Leben passiert, in der heutigen Welt, in der man oft auf die Schnelligkeit setzt und glaubt, es gäbe schnelle Lösungen für Erfolg. Nein, die gibt es nicht, außer den Bluff. Und der Bluff fällt früher oder später zusammen. So ist es einfach.
In diesem Sinne lehrt das Lernen der Sprachen, was es heißt, geduldig zu sein, langfristig und systematisch zu arbeiten, die Basis, den Grund zu legen, worauf man später weiter bauen kann.
Aber auch die Beschäftigung mit der Literatur, mit der geschriebenen Sprache, mit den durch die Sprache ausgedrückten Gedanken bedeutet für mich eine Verlangsamung, eine Art Vertiefung in eine andere Welt, in die Welt des Schriftstellers. Aber durch die Worte des Autors, durch das Hineindringen in seine oder ihre Welt, erkundet man auch sich selber. Die Literatur ist oft der Spiegel, in dem man sich erkennt, wiedererkennt oder auch neu entdeckt.
Zudem ist das Lesen eines Buches ein langsamer Prozess. Es verlangt Übung und lehrt die Art der Konzentration. Es lehrt, wie man Schritt für Schritt tiefer in eine Welt und oft auch in sich selber hineintauchen kann. Wie man sich selber durch das Lesen erkunden kann.
Die Sprache ist somit ein Fenster zu anderen Menschen, sei es im Gespräch oder durch die Literatur. Man kann die Sprache als ein Mittel für die Eröffnung der Fenster und Türen ziemlich abstrakt verstehen, im Sinne von Verständigung zwischen unterschiedlicher Kulturen. Denn man kann Menschen aus anderen Kulturen ohne deren Sprache zu können oder zumindest eine gemeinsame dritte Sprache zu haben nicht verstehen. Das ist die Tatsache.
Man kann die Sprache als ein Öffner von Fenstern und Türen auch viel konkreter und individuumsbezogen verstehen. Erst durch die Sprache – sei es die Muttersprache oder eine erlernte neue Sprache – erst durch die Möglichkeit sich auszudrücken, sich in der Sprache verständlich zu machen, können wir uns dem anderen Menschen begegnen, mit dem Anderen in Dialog treten. Und der Dialog, die Begegnung mit dem anderen Menschen ist das wichtigste im Leben überhaupt. Das Leben ohne die Möglichkeit mit einem anderen Menschen in Kontakt zu kommen, ihm zu begegnen, wäre sinn- und freudenlos. Es beginnt ja bereits im Kontakt zwischen der Mutter und dem Säugling und begleitet uns das ganze Leben.
Der innere Wunsch, sogar die Not, uns den anderen verständlich zu machen ist das Natürlichste überhaupt. Die Anerkennung, die Möglichkeit gesehen, gehört und verstanden zu werden ist wiederum das wichtigste was ein Mensch, ein anwachsender Mensch im Leben braucht. Ausgehört und gehört zu sein.
Das Zuhören, das aufmerksame Zuhören ist ebenso eine Kunst, die gelernt werden soll und die Geduld sowie Verlangsamung von uns Erwachsenen verlangt. Diese Kunst kann vielleicht nicht sehr einfach in der Schule geübt werden, aber desto wichtiger ist es, sich dafür privat Zeit zu nehmen, insbesondere für die Kinder Zeit zu nehmen. Es ist äußerst wichtig, dem Anderen Gehör zu schenken, besonders wenn es sich um die heranwachsenden Menschen handelt, sich Zeit zu nehmen in die Welt eines anderen Menschen hineinzutauchen.
Mir hat dabei die Beschäftigung mit der Sprache und mit der Literatur viel geholfen, mich gelehrt, geduldiger zu sein.
Um zu schlussfolgern: Die Sprache und die Sprachen sind die Fenster und Türen in die Welt der Vertiefung und Verlangsamung, zur besseren Kenntnis der Welt und des eigenen Selbst.
Die Sprache ist ein Zuhause, sie bietet Schutz und Zuflucht. Wenn man schwere Zeiten hat, das Leben zu hektisch wird, nehmt euch Zeit, setzt euch hin, lest ein Buch oder, manchmal ist es noch besser, schreibt auf, was euch Sorgen macht und Unruhe bereitet.
Die Sprache ist uns gegeben, um der Herr des eigenen selbst zu sein.